Der Mann im gelben Trikot des Gesamtbesten hatte die letzte Scheibe versenkt – beim Biathlonweltcup in Ruhpolding lief soeben das Einzelrennen der Männer. Und zumindest im letzten Schießen stehend hatte der beste Biathlet der Welt alles getroffen, ansonsten war es nicht der Tag des Johannes Thingnes Bö. Und dann passierte, was in den vergangenen zehn Jahren undenkbar gewesen wäre: Anstatt wie sonst hastig zurück in die Loipe zu springen, blieb Bö nach seinem letzten Schuss stehen. So als wolle er das Rennen aufgeben.
Die Szene ist einige Tage alt, und inzwischen ist klar, dass sie für mehr steht. Das zeigte sich am Samstag, als Johannes Thingnes Bö in Ruhpolding auf dem Pressepodium saß. Bö trug eine blaue Kappe mit der Aufschrift „Ice“, das passte zu dem Mann, der seit vielen Jahren den Biathlonsport dominiert, weil er eiskalt wirkte, sobald er mit Skiern und Schießgewehr unterwegs war. Nun aber war von Eis nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil.

Biathlon in Ruhpolding:Preuß verpasst den Sieg - und der Stadionsprecher fühlt sich schuldig
Franziska Preuß kreidet dem Ruhpoldinger Stadionsprecher ihren Fehler beim Stehendschießen an, der sie den Sieg im Einzel kostete. Karlheinz Kas reagiert mit Bestürzung.
Bö, das war sofort zu sehen, hatte eine Botschaft zu verkünden, die ihm alles andere als leicht über die Lippen ging. Schon während er zum Sprechen ansetzte, kamen ihm die Tränen. „Es ist gerade sehr hart für mich“, sagte Bö vor etwa 50 Reportern, ehe er auf Norwegisch erklärte, dass er seine Karriere als aktiver Biathlet nach diesem Winter beenden werde. „Jetzt ist es an der Zeit, meine Familie in den Vordergrund zu stellen.“
Aber ist er mit 31 nicht im besten Biathleten-Alter?
Dass Bö noch vor der 2026 anstehenden Olympiasaison aufhören wird, kam auch für die norwegische Reporterschaft überraschend, wie in Ruhpolding zu vernehmen war. „Sportnorwegen unter Schock“, titelte der TV-Sender NRK auf seiner Webseite. Eigentlich habe er noch bis zu den Spielen in Italien weitermachen wollen, so Bö, „aber die Teilnahme an den Olympischen Spielen verlangt mir noch mehr ab, auch von meinem Umfeld“. Die Zeit im Biathlonzirkus sei „fantastisch, aber auch eine Herausforderung“ gewesen, es habe „sehr viel Kraft gekostet, die Nummer eins zu sein“, sagte er in der Chiemgau Arena. Bereits 2022 hatte er zum ersten Mal den Eindruck, „dass ich eine Pause brauche“. Nun reiche seine Kraft „nicht mehr, um noch ein Jahr weiterzumachen“. Durch seine Ehefrau Hedda und die gemeinsamen Kinder Gustav und Sofia trete „vieles in den Hintergrund“, betonte Bö, der sichtlich Mühe hatte, die Fassung zu wahren.
Bö holte fünfmal Gold bei Olympia, dazu bisher 20 WM-Titel
Für seine Abschiedstournee, die am Sonntag mit dem Massenstart beginnen sollte, hatte der Norweger noch einen Wunsch: „Lasst uns die letzten Wettkämpfe gemeinsam genießen.“ Er wurde dann unter großem Jubel Dritter. „Ich muss zugeben, dass es ganz schön viel war in den letzten 24 Stunden“, sagte er, „umso stolzer bin ich auf diesen Podestplatz.“ Am heimischen Holmenkollen in Oslo will er dann beim Weltcupfinale vom 20. bis 23. März „mit einem Paukenschlag“ abtreten.
Den ersten Trommelwirbel machte Bö vor 14 Jahren, als er, damals im zarten Biathletenalter von 17, dem damaligen Offiziellen Felix Bitterling bei der Athleten-Passkontrolle eine Ansage machte. „Er sagte zu mir, dass ich mir seinen Namen bald merken werde“, erzählte Bitterling am Samstagnachmittag nach dem Staffelsieg des deutschen Frauenteams vor Norwegen und Frankreich. „Nicht morgen, aber übermorgen wirst du ihn dir merken“, soll Bö gesagt haben, ehe er tatsächlich zwei Tage später Zehnter in seinem zweiten IBU-Cup-Rennen wurde und erstmals aufhorchen ließ. So begann die Ära des großen Dominators.
Bei Olympia holte er fünfmal Gold, hinzu kommen 20 WM-Titel, so viele wie die norwegische Biathlonikone Ole Einar Björndalen. Und diese Marke kann Bö trotz seines baldigen Abtritts noch knacken. Bei der Weltmeisterschaft in Lenzerheide (12. bis 23. Februar) werden in Staffeln und Einzelwettbewerben bei den Männern insgesamt acht Goldmedaillen vergeben. Dies würde er „ihm gönnen“, erklärte Björndalen in Ruhpolding, der hier fürs norwegische Fernsehen die Rennen mitkommentiert und insgesamt acht olympische Goldmedaillen gewann – ein Rekord, den Bö nun nicht mehr überbieten kann. Im Weltcup gelangen Bö bisher 79 Einzelsiege, fünfmal holte er die Gesamtwertung, in dieser Saison trägt er wieder das gelbe Leibchen des Führenden.
Dass Bö nun den Zeitpunkt seines Abschieds selbst bestimme, zeige seine Ausnahmeerscheinung, so Bitterling. Es zeige, „dass dieser Mensch noch inspirierender ist als der Champion“, kommentierte Martin Fourcade den Rücktritt seines einstigen Rivalen. Der deutsche Ex-Biathlet Arnd Peiffer erklärte, dass Bös Rücktritt, „schlechte Nachrichten für den Biathlonsport“ seien.
Auf der Suche nach positiven Nebenwirkungen bleibt immerhin die Prophezeiung, dass der Kampf um Medaillen und Weltcuppunkte in den kommenden Jahren bei den Biathleten ähnlich unvorhersehbar wird wie bei den Frauen. Bö war in den vergangenen Wintern bisweilen kaum zu bezwingen, erinnert sei an die Bö-Festspiele von Oberhof, als er allein in Thüringen fünf Goldmedaillen abräumte und sämtliche Konkurrenten aus Frankreich, Schweden und Deutschland am Schießstand stehenließ wie Dorfbuben vor dem geschlossenen Milchkammerl.
Die ärgsten Rivalen hat Bö seit mehreren Jahren im eigenen Team – und in der eigenen Familie
Die ärgsten Rivalen hat Bö tatsächlich seit mehreren Jahren im eigenen Team – und in der eigenen Familie. Am Ende des vergangenen Winters hatte Johannes Thingnes Bö 182 Punkte Vorsprung auf seinen älteren Bruder Tarjei Bö, dahinter reihten sich im Gesamtweltcup drei weitere Norweger, Johannes Dale-Skjevdal, Sturla Holm Laegreid und Vetle Sjastad Christiansen, im aktuellen Ranking liegt Bö mit 662 Punkten vergleichsweise knapp vor Laegreid (614). Würde Norwegen statt sechs Athleten 16 stellen, wahrscheinlich wären sie alle unter den Top 30 zu finden. Fast in einer eigenen Liga.
Eine norwegische Biathlonliga? „Eine lustige Idee, darüber zu sprechen“, hat Bö einmal auf Nachfrage erzählt. Im eine Stufe tiefer angesiedelten IBU-Cup, „da haben wir Norweger auch sehr gute Ergebnisse“, sagte er. Dennoch sehe er eine zu große Lücke. „Es ist nicht so, dass wir hundert Leute für so eine Liga hätten.“ Von kommendem Winter an jedenfalls wird es ein Norweger weniger sein.
Wie sich Bö künftig beruflich orientiert, ließ er in Ruhpolding offen. Er werde seinen Sponsoren treu bleiben, sagte er, und auch seiner Familie. Allerdings, so Bö, werde er den Biathlonsport nicht restlos aus seinem Kalender streichen können. Er habe seiner Frau bereits mitgeteilt, dass er bei Olympia in Antholz dabei sein werde, „wenn auch nicht als Athlet“. Aber, ergänzte er, „vielleicht braucht mich ja die Staffel“. Ein kurzes Lächeln war nun in seinem Gesicht zu sehen. Hat er sich da ein Hintertürchen offen gelassen? Bö wäre nicht der Erste, der nach dem Rückzug ein Comeback gibt.