Süddeutsche Zeitung

Biathlon:Auf der Suche nach der verlorenen Patrone

Die deutsche Biathlon-Mannschaft erfüllt beim Weltcup-Auftakt in Schweden bereits einen großen Teil ihrer Aufgaben. Da fällt es kaum ins Gewicht, dass die Auftritte von viel Nervosität begleitet werden.

Von Volker Kreisl, Östersund/München

Für einen Moment war die Konzentration weg und die Gedanken verselbständigten sich. Hab ich jetzt eine Patrone raus repetiert?, funkte beim Stehendschießen die innere Stimme von Denise Herrmann an das Kurzzeitgedächtnis von Denise Herrmann. Dieses wusste es nicht mehr so genau, vielleicht war es ja nur ein "blödes Nachladen", schlug ihr das Kurzzeitgedächtnis vor, aber jetzt stand die Biathletin Denises Herrmann am Schießstand und musste sich entscheiden. Die Uhr tickte, und Herrmann traf dann doch die richtige Wahl, sie schob eine neue Patrone nach, legte an und traf.

Dann machte sie sich wieder auf, stemmte sich mit kräftigen Schüben zurück in die Loipe und erledigte den Rest ihres Auftrags im Einzelrennen von Östersund an diesem ersten Biathlon-Weltcup des Olympia-Winters. Platz drei wurde es schließlich, was nicht nur für sie, sondern auch für den Rest des deutschen Biathlontrosses signalisierte: Wir können es doch.

Dieser Winter verlangt viel innere Stabilität

Damit war nicht nur die erste persönliche Olympia-Zulassung geschafft (einmal unter den besten Acht oder zweimal Top 15), auch weitere persönliche Erfolge auf dem Weg zu den Spielen in Peking 2022 kamen dazu. Franziska Preuß, am Samstag zuvor mit vier Schießfehlern noch jenseits der besten 30 gelandet, erreichte am Sonntag im Sprint Platz sieben. Sie ist somit in Peking ebenfalls sicher dabei, genauso wie Philipp Nawrath, 28, er wurde Sechster im Sprint. Halbe Olympia-Normen des Verbandes schafften zudem die Jüngeren, Justus Strelow, 24, kam im Einzel als 13. an, Roman Rees direkt dahinter. Bei den Frauen gelangen ebenfalls den Jüngeren Teilerfolge. Vanessa Voigt, 24, aus Thüringen wurde Zwölfte, die 25-jährige Anna Weidel (Kiefersfelden) erreichte sogar Platz neun.

Aber was heißt "sogar" - sensiblere Akteure ärgern sich bei dem, was Weidel am Wochenende passiert ist, womit dann wieder die Konzentration beeinträchtigt wird: Denn Weidel hatte an diesem Wochenende zweimal null Fehler geschossen und Platz acht, also die direkte Qualifikation, trotzdem verpasst, und zwar um eine Sekunde, genauer gesagt 0,9 Sekunden. Dann kam der nächste Tag, der Sprint, in dem sie eine weitere Top-15-Platzierung ins Auge fasste, womit sie das Wichtigste früh erledigt hätte. Es wurde aber nur Rang 16.

Da ist es ein Glück, dass der Wintersportler-Alltag mit Auslaufen, Nachbesprechung, Packen, Auschecken, im Flugzeug sitzen, wieder Einchecken und Laufen wenig Raum für jenen Teil im Gehirn hat, der fürs nachträgliche, destruktive Hadern im Konjunktiv zuständig ist. Das deutsche Biathlon muss gerade einen Generationswechsel bewältigen, und dieses erste Wochenende wirkte insgesamt doch vielversprechend. Die Älteren nahmen die Herausforderung des neuen Konkurrenzkampfes an, die Jüngeren boten ihnen die Stirn. Die Stimmung im Team scheint im Moment nicht von der Situation belastet zu sein.

Trotzdem verlangt dieser lange Winter besonders viel innere Stabilität, und für diese Stärke geben die Norweger in diesen Zeiten ein Beispiel. Deren Biathletinnen und Biathleten hatten zuletzt alles dominiert, im Gesamtweltcup der Männer des vergangenen Winters kamen vier von ihnen unter die besten Fünf. Zuvor schon, bei der Weltmeisterschaft im Februar in Slowenien, feierte das gesamte Team doppelt so viele Erfolge wie die zweitplatzierte Nation Frankreich.

Norwegens neuester Top-Biathlet behilft sich mit der Kunst des Visualisierens

Es geht darum, die Gedanken loszulassen und sich auf das, was gerade kommt, zu konzentrieren. Die Norweger waren am Wochenende wieder das insgesamt stärkste Team, einer davon, der aktuelle dreimalige WM-Gold-Gewinner Sturla Holm Laegreid, erzählte zuletzt, er behelfe sich mit Meditation, zudem mit der Kunst des Visualisierens von dem, welche Herausforderungen auf ihn zukommen, unter anderem wieder lärmende Zuschauer nach einem Winter ohne Publikum.

Laegreid, 24, muss noch an seiner Laufstärke arbeiten, und doch macht er Fortschritte. Das Einzelrennen am Samstag gewann er und ist momentan ein Beispiel für innere Stärke. Andere, die an diesem Auftaktwochenende noch etwas unsicher ob der Aufgaben waren, müssen sich Laegreid ja nicht gleich zum Vorbild machen. Vielen ist zum Saisonanfang noch nicht alles gelungen, manchen auch wegen mangelnder Konzentration.

Dass jemand mit den Gedanken noch woanders ist und deshalb, wie der noch junge Justus Strelow, in einer scharfen Linkskurve bei steiler Abwärtsfahrt und großer Aufregung stürzt und mit gebrochenem Stock zunächst viel Zeit verliert, das kommt eben vor. Und manche, auch erfahrene Biathleten, hatten beim ersten Weltcup dieser Saison Zeit verloren, weil sie versehentlich vor dem weit links gelegenen Ziel falsch abgebogen waren. Vor so einer wichtigen, fordernden Saison kann man schon mal zum falschen Zeitpunkt die Konzentration verlieren.

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