Titel im VolleyballDer Mann, der aus dem Garten kam

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Der Schlüsselspieler nimmt langsam Abschied: Berlins Stratege Johannes Tille.
Der Schlüsselspieler nimmt langsam Abschied: Berlins Stratege Johannes Tille. (Foto: Justus Stegemann/Imago)

Johannes Tille ist Deutschlands bester Zuspieler – und hat mit Berlin gerade seine dritte deutsche Meisterschaft gewonnen. Auf einer Schlüsselposition im Volleyball, die wie geschaffen ist für Dirigenten, Taktgeber, Denker und Lenker.

Von Sebastian Winter

Ein paar Tage vor Weihnachten klingelte es an der Tür bei Kaweh Niroomand, Berlin-Zehlendorf, feine Gegend, schicke Häuser, der Schlachtensee fast vor der Tür. Der Gast hatte großen Respekt vor dem Gespräch beim langjährigen Manager der Berlin Recycling Volleys. Denn Niroomand, 72, möchte, dass Verträge erfüllt werden. Er ist einer vom alten Schlag, im positiven Sinne. Als Zwölfjähriger kam er alleine ohne Sprachkenntnisse aus Iran nach Deutschland, weil seine Eltern ihm eine bessere Schulbildung ermöglichen wollten. Wohnte bei einem Onkel und bei einer Gastfamilie, wurde Schülersprecher, später erfolgreicher Manager und über die Grenzen Berlins hinweg angesehener Förderer des Sports. Genau deshalb hatte der Gast regelrecht Angst.

„Kaweh machte dann die Tür auf“, sagt Berlins Volleyballprofi Johannes Tille, und das Erste, was er zu mir sagte, war: ‚Wo soll’s denn hingehen?‘“ Diese Frage war weit über Zehlendorf hinaus ein Türöffner für Tille. Denn Niroomand ließ seine Schlüsselfigur, die eigentlich einen Dreijahresvertrag bis 2026 unterschrieben hatte, gehen, mit nur einem Satz. Die Saison ist nun beendet, Berlin hat nach dem dritten Sieg in der Best-of-five-Finalserie gegen Lüneburg schon am Samstag den deutschen Meistertitel Perfekt gemacht, zur neuen Saison wechselt Tille nach Polen. Dorthin also, wo die Begeisterung für Volleyball ein Vielfaches größer ist als in Deutschland. Und wo bei der WM 2014 und der EM 2017 jeweils mehr als 60 000 Zuschauer zum Eröffnungsspiel ins Warschauer Nationalstadion kamen.

Als Tille Niroomands Haus betrat, sprachen sie noch eine Stunde lang über ihren geliebten Sport, auch über das, was nicht so gut läuft im deutschen System, über Schieflagen bei der Förderung. Am Ende sagte Tille Niroomand, dass er sich eine Rückkehr nach Berlin sehr gut vorstellen könne, irgendwann. Jetzt aber sei es Zeit zu gehen.

Zuspieler müssen Gefühl in den Händen haben, aber auch universelle Profis sein, stark in fast allen Techniken

Tille ist Deutschlands bester Zuspieler, er füllt auch in der Nationalmannschaft die großen Spuren aus, die Lukas Kampa bis zu den Olympischen Spielen 2024 auf dieser Position hinterlassen hat. Im Qualifikationsturnier ersetzte Tille den von Rückenschmerzen geplagten Kampa und führte die DVV-Männer fast schon sensationell nach Paris. Und auch dort sah man im fünften Satz des Viertelfinal-Dramas gegen Frankreich, das die Deutschen so bitter mit 2:3 verloren: Sie haben einen neuen Strategen auf dem Feld.

Der Zuspieler ist in einer Volleyballmannschaft der Denker und Lenker des gesamten Spiels. „Er muss sich um die Abläufe und ums Spielsystem kümmern“, sagt Tille. Er ist Dirigent, Taktgeber, der seine Mannschaft und im besten Fall den Gegner im Blick hat. Er zieht die Fäden wie früher der Zehner im Fußball, mit Antizipation und Weitblick. Nur mit den Fingern statt den Füßen.

Als Zuspieler braucht man das Gefühl für den richtigen Pass zum richtigen Zeitpunkt: Tille bedient seinen Nationalmannschaftskollegen Tobias Krick (li.) im November 2024 im Spiel gegen Haching.
Als Zuspieler braucht man das Gefühl für den richtigen Pass zum richtigen Zeitpunkt: Tille bedient seinen Nationalmannschaftskollegen Tobias Krick (li.) im November 2024 im Spiel gegen Haching. (Foto: Engler/Nordphoto/Imago)

Niroomand sagt: „Trainer können noch so viel scouten und Videos sichten. Aber nur der Zuspieler trifft die Entscheidung, wohin er den Ball lenkt – und muss sie dann präzise ausführen. Das ist eine enorme Verantwortung. Auch deshalb gilt das Zuspiel als die wohl wichtigste Position im internationalen Volleyball.“

Zuspieler müssen Gefühl in den Händen haben, aber auch universelle Profis sein, stark in fast allen Techniken, im Aufschlag, in der Abwehr, idealerweise auch im Angriff und Block; in letzterem hat Tille, der nur 1,84 Meter misst, im Wortsinn noch die meiste Luft nach oben. Überdies bestimmen sie die Strategie, machen das Spiel schnell oder langsam, benötigen einen kühlen Kopf und jenes Maß an Spielwitz, das nur wenige haben. Sie sind dazu da, den Gegner zu foppen, seinen Block auszuspielen, indem sie ihre eigenen Angreifer bestmöglich in Szene setzen. Vor allem müssen sie Zocker sein. „Und sie sollten eine kleine Prise Arroganz besitzen, um am Netz auch mal zu sticheln und den Gegner zu nerven“, sagt Tille. Er hat das gelernt, in 68 Länderspielen, bei seinen früheren Klubs, der Kaderschmiede VC Olympia Berlin, den WWK Volleys Herrsching oder Saint-Nazaire in Frankreich. Aber auch im heimischen Garten in Mühldorf am Inn.

„Sie sollten eine kleine Prise Arroganz besitzen, um am Netz auch mal zu sticheln und den Gegner zu nerven“, sagt Tille über die Lenker und Denker des Volleyballspiels.
„Sie sollten eine kleine Prise Arroganz besitzen, um am Netz auch mal zu sticheln und den Gegner zu nerven“, sagt Tille über die Lenker und Denker des Volleyballspiels. (Foto: Anton Hoefel/Imago)

Dort spielte Tille mit seinen Brüdern Ferdinand und Leonhard tagein, tagaus auf einem von Schnüren begrenzten Feld übers Netz, bis ihre Mutter ganz bleich wurde wegen der Rosen und dem Gewächshaus im Eck. Verlieren wollte keiner. Der Vater lotste als Gymnasiallehrer in Mühldorf Hunderte Kinder aufs Feld. „Papa war immer ein Fan davon, Spieler ganzheitlich auszubilden und nicht nur in einem Element“, sagt Johannes Tille. Wie sein späterer Trainer in Mühldorf, Günther Thomae. Urlaub machte die Familie im Campingparadies Keutschacher See, wie so viele andere Volleyballer.

Ferdinand gewann mit Haching dann dreimal den DVV-Pokal, spielte 165 Mal für die deutsche Nationalmannschaft, wurde 2010 als bester Libero der WM ausgezeichnet und 2014 WM-Dritter. Leonhard spielte, ebenfalls als Abwehrchef, erste Liga und fünfmal für die DVV-Auswahl. Johannes Tille aber wählte seinen eigenen Weg, der ihn direkt ans 9,5 Meter lange Volleyballnetz führte. Dorthin also, wo sich die Partien für gewöhnlich entscheiden.

„Hannes ist ein geborener Zuspieler. Er hatte von der Pike auf diese Spielintelligenz, kann das Spiel lesen, macht intuitiv vieles richtig, entscheidet aus dem Bauch heraus“, sagt Ferdinand, sein Bruder: „Im Fußball würde man sagen, er ist ein Straßenkicker. Auf uns bezogen eher: ein Gartenvolleyballer.“

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Tille liebt das Spiel mit dem Ball, egal mit welchem. Niroomand fielen außerdem seine gute Technik auf; seine für Zuspieler enorm wichtige Schnelligkeit auf den ersten ein, zwei Metern, um auch nicht perfekte Annahmen sinnvoll weiterleiten zu können; und die wuchtigen Sprungaufschläge. 2022 wechselte er nach Berlin, zum deutschen Sehnsuchtsort im Männervolleyball: größter Etat, hervorragende Strukturen, bester Zuschauerschnitt Europas, Champions-League-Abende. Tille schwamm sich dort schon nach Monaten frei, als sich der Stammsteller verletzte und er gefordert war. Berlin räumte 2023 und 2024 dann alles ab, was es im hiesigen Volleyballbetrieb zu gewinnen gab, wurde zweimal Pokalsieger und nun dreimal deutscher Meister.

Aber Tille war das nicht genug, er wünschte sich eine Liga mit mehr Wettbewerb, vor allem jetzt, in seiner dritten Saison. „Ich wusste genau, er ist unglücklich“, sagt Niroomand. Noch bevor er ihm die Tür in Zehlendorf öffnete. „Sie glauben mir ohnehin nicht, wenn ich das sage, aber: In erster Linie habe ich an ihn und die deutsche Nationalmannschaft gedacht. Denn wir brauchen Hannes auf höchstem Niveau für den deutschen Volleyball.“

Der Schritt ins Ausland kommt für den 27-Jährigen also gerade richtig. Noch ist nicht offiziell, zu welchem Klub es geht in Polen. Aber Tille verdient nun nach eigener Aussage das Zweieinhalbfache seines Gehalts in Berlin, eine ordentliche sechsstellige Nettosumme, wenn auch im unteren Bereich. Fast schon ein Vermögen für Volleyballer. Berlin bekam dafür eine Ablöse „aus dem oberen Regal“, wie Niroomand sagt. Tille zufolge war sie ähnlich hoch wie sein Jahresgehalt bei den Volleys.

Polen also. „Ein superschönes Land, mit tollen, volleyballverrückten Menschen“, sagt Ferdinand, sein Bruder. Er spielte dort selbst eine Saison lang in Belchatow. Tille, der passionierte Hobbykoch und -schreiner, freut sich auf seine beiden neuen Abenteuer, die ihn von Herbst an erwarten. Im September wird er Vater. Die Suche nach einem Garten, in den ein Spielfeld passt, könnte bald beginnen.

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