Süddeutsche Zeitung

Berlin-Marathon:Sechs Sekunden

Die Ausdauerkönner Kenenisa Bekele und Wilson Kipsang trösten sich beim Berlin-Marathon dafür, dass ihre Verbände sie nicht zu Olympia nach Rio mitnahmen - Sieger Bekele verbessert sogar beinahe den Weltrekord.

Von Johannes Knuth, Berlin

Die ersten Aufnahmen aus dem Zielbereich, die am Sonntag von Kenenisa Bekele um die Welt gingen, zeigten einen Marathonläufer, der in seinen Frust eintauchte. Und dann ausgiebig darin badete. "Wenige Sekunden am Weltrekord vorbei", japste Bekele. 2:03:03 Stunden hatte er benötigt, sechs Sekunden langsamer als Dennis Kimetto bei seinem Rekordlauf. Bekele hatte dafür die zweitbeste Zeit der Geschichte in die Statistikbücher geschrieben, und gewonnen hatte er auch, vor Wilson Kipsang (2:03:13). Aber knapp zu scheitern, ist dann halt doch schmerzvoller, als wenn einem das Rennen völlig entgleitet.

Bei der Siegerehrung war Bekele wieder aus seinem Ärger aufgetaucht. Auf dem Haupt ruhte ein Lorbeerkranz, der auf seinem schmalen Kopf eher einem Sonnenhut ähnelte, dann drückten sie ihm ein metergroßes Glas mit (alkoholfreiem?) Weißbier in die Hand, das Bekele höflich ignorierte. Er genoss lieber den äthiopischen Landesrekord, den er Haile Gebrselassie entrissen hatte, seinem Vorbild. "Ich bin wirklich sehr glücklich nach der langen Verletzungszeit", sagte Bekele später. Dann fügte der 34-Jährige an: "Heute ist hier auch meine Zukunft angebrochen."

Die 43. Ausgabe des Berliner Marathons war ein packendes Rennen, sowohl für Freunde der Zeitenjagd als auch für Anhänger des Zweikampfs. Und den fochten diesmal der Kenianer Wilson Kipsang, 34, und Kenenisa Bekele aus, zwei Großmeister, in deren Karrieren es in den vergangenen Jahren ziemlich geknirscht hatte. Kipsang war bis vor zwei Jahren der Beste der Marathonzunft, aber diesen Titel hat ihm längst sein Landsmann Eliud Kipchoge entrissen, der Olympiasieger von Rio. Kipsang hatten sie gar nicht mitgenommen, Formschwäche. Und Bekele? Er hat seinen Ruhm mit drei Olympiasiegen auf der Bahn gemehrt, seine Weltrekorde über 5000 und 10 000 Meter stehen bis heute unverrückbar in den Büchern. Aber der Transfer zu den stärker besetzten Straßenrennen wollte Bekele jahrelang nicht gelingen. Er überdrehte oft im Training, getrieben vom heißen Wunsch, Hailes Taten auf der Langstrecke zu überflügeln. Er fiel von einer Verletzung in die nächste, die Achillessehne schmerzte oft, und als er im Frühjahr in London ein achtbares Resultat anbot, schloss ihn der Verband trotzdem nicht in die Reisegruppe nach Rio ein. "Ich hatte erwartet, dass sie mich mitnehmen", sagte er nun spitz, "ich war nicht sehr glücklich." Dafür spendete sein Auftritt auf der schnellen Berliner Piste nicht nur Trost, er war wohl auch ein Zeichen: Dass Bekele jetzt in seiner zweiten Karriere angekommen ist, mit 34.

58-Jähriger stirbt bei Skater-Marathon

Ein Todesfall hat am Samstag die 20. Auflage des Skater-Rennens beim Berlin-Marathon überschattet. Wie der Veranstalter mitteilte, kam für einen 58 Jahre alten Inlineskater trotz sofortiger Rettungsmaßnahmen jede Hilfe zu spät. Der Vorfall ereignete sich bei Kilometer 28. Über die Ursache war zunächst nichts bekannt. Der Sieg ging zum vierten Mal in Serie an den Eisschnellläufer Bart Swings aus Belgien, diesmal in 59:59 Minuten. dpa

"Die besten Dinge werden von Menschen erschaffen, die von Neugier getrieben sind und dabei weder Kosten noch Konsequenzen kalkulieren", hat der amerikanische Journalist Walter Lippmann einmal geschrieben. Und auch wenn die größten Taten im Sport längst von großen Zweifeln begleitet werden, dem zerbeulten Anti-Doping-Kampf sei Dank: Bekele und Kipsang scheuten weder Kosten noch Konsequenzen, als sie am Sonntag in den trockenen, kühlen Berliner Herbst hineinrannten, getrieben von einem neuen Abenteurergeist.

Die ersten fünf Kilometer: 14:20 Minuten. Der Halbmarathon: 61:11. Bald waren Kipsang und Bekele unter sich, sie würden im Ziel entweder eine Verabredung mit der Historie haben, oder ihr Vorhaben würde implodieren. Es wurde dann auch so ein historischer Tag, denn nach 30 Kilometern schüttelten beide die Gedanken an den Rekord kurz ab und widmeten sich ihrem Duell. Sie belauerten sich. Kipsang setzte sich ab, Bekele, geplagt von Krämpfen, rutschte in eine Krise. Aber er kletterte wieder heraus, auch nach Kipsangs zweiter Attacke. Jetzt gab es keine Pläne mehr, nur noch das, was der Körper an Reserven herausrückte. Und die waren bei Bekele ergiebiger, ein Relikt aus alten Bahnzeiten. Ein langer, zwei Kilometer währender Spurt führte ihn zum Sieg.

"Im Marathon kommt vieles auf die Vorbereitung an. Für Berlin konnte ich mich erstmals richtig vorbereiten", sagte Bekele. "Er ist endgültig zum Marathon umgezogen", assistierte sein Manager Jos Hermens. Olympia 2020 sei das neue Ziel, Bekele wäre dann 38. Aber da helfe ihm seine Krankenakte, fand Hermens: "Ich vergleiche eine Karriere immer mit einer Kerze, die herunterbrennt. Kenenisas Kerze hat während der Auszeiten nicht gebrannt. Er ist jetzt gesund und hat etwas Zeit übrig."

Man kann im Marathon noch so fleißig die Saat auswerfen und sie bestellen - es dauert oft Jahre, bis ein Läufer seine Pläne zur Blüte treibt. Davon konnten auch die besten Deutschen in Berlin einiges erzählen, Steffen Uliczka und Katharina Heinig. Sie hatten sich zuvor oft in den Tücken des Marathons verheddert, Uliczka mit einem Ermüdungsbruch, Heinig, Tochter der ehemaligen Marathonläuferin Kathrin Dörre-Heinig, mit Fernsenproblemen und Sturzpech. Diese Beiden trösteten sich in Berlin ebenfalls für die verpasste Olympiateilnahme. Auch wenn Uliczka, ein ehemaliger Hindernisläufer, bei seinem zweiten Marathon (2:15:02) mit der dumpfen Müdigkeit der Langstrecke kämpfte, "die nie richtig wehtut", wie er fand: "Aber man kann einfach nicht schneller laufen."

Heinig ließ sich davon weniger beirren, sie wurde beim Sieg der Äthiopierin Aberu Kebede (2:20:45) Fünfte, in starken 2:28:34 Stunden. Tränen schossen ihr in die Augen, "nach einer schweren Zeit", wie sie sagte. Sie weiß, wie selten diese Momente sind, in denen einem der Marathon seine ungebrochene Gunst gewährt.

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SZ vom 26.09.2016
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