Zu den Schatten, über die Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps springen musste, gehörten auch jene, die die eigene Erinnerung warf. Zum Beispiel: Die Erinnerung an die Tage nach einem Interview von Karim Benzema aus dem Jahr 2016. Keine zwölf Monate waren seit Benzemas Verbannung aus der französischen Nationalelf vergangen, und der Stürmer von Real Madrid ließ in der spanischen Zeitung Marca seiner Enttäuschung freien Lauf.
Deschamps habe sich "dem Druck eines rassistischen Teils Frankreichs gebeugt", sagte Benzema damals - kurz darauf sah Deschamps das Wort "Rassist" an die Wand seiner Sommerresidenz geschmiert. Er sah sich und seine Familie bedroht - obwohl die Affäre um etwas kreiste, was mit Rassismus nicht so viel zu tun hat: eine angebliche Erpressung des (mittlerweile ehemaligen) Nationalspielers Mathieu Valbuena, von der noch die Rede sein wird. "Gewisse Dinge führen notwendigerweise zu verbalen oder physischen Aggressionen. Ich leide unter den Konsequenzen. Wir können das nicht vergessen. Ich kann das nicht vergessen. Ich werde das nie vergessen", sagte Deschamps noch im Januar. Und nun? Nun steht "Frankreich über allem". So jedenfalls sagte es Deschamps, 52, am Dienstagabend, als er Benzema zur besten Fernsehzeit begnadigte. Der Stürmer, inzwischen 33 Jahre alt, darf bei der EM wieder bei der Équipe Tricolore mitspielen, unter anderem am 15. Juni in München gegen Deutschland.
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"Ich bin sehr stolz", schrieb Benzema in einem sozialen Netzwerk, und es wirkte, als sei er tatsächlich gerührt. Für die Franzosen ist das Comeback eine frappierende, auch verstörende Sensation. Andererseits weckt sie enorme Hoffnungen auf einen Titel, den Frankreich letztmals im Sommer 2000 gewann. Unter anderen mit Deschamps als Spieler.
Von einem "goldenen Dreieck" schwärmte die Zeitung L'Équipe nach der Bestätigung der Rückkehr Benzemas. Der Grund: Deschamps kann auch auf privilegierte Offensivkräfte wie Kylian Mbappé (Paris St.-Germain) und Antoine Griezmann (FC Barcelona) zurückgreifen, die nun mit Benzema verschmelzen sollen. Und dann wäre da auch die Möglichkeit, Kingsley Coman einzusetzen; der Außenstürmer ist neben Benjamin Pavard, Lucas Hernández und Corentin Tolisso einer von vier Spielern aus dem aktuellen Bayern-Kader, die Deschamps berief. Bayern-Zugang Dayot Upamecano (Leipzig) hingegen darf Urlaub machen - anders als Stürmer Marcus Thuram von Borussia Mönchengladbach. Wobei Thuram sich wohl hinter Wissam Ben Yeeder (AS Monaco), Ousmane Dembélé (FC Barcelona) und Oliver Giroud (FC Chelsea) anstellen muss. Sie komplettieren ein Offensiv-Arsenal, das in Europa wohl seinesgleichen sucht.
Benzema war schon immer ein eleganter, faszinierender Stürmer, seit dem Abschied von Cristiano Ronaldo (2018) ist er bei Real Madrid noch wichtiger geworden. Allein in dieser Saison hat er 29 Tore erzielt und acht Vorlagen gegeben. Und er spielte sich dabei so dermaßen in die Form seines Lebens, dass Reals Trainer Zinédine Zidane seinen Ärger über die Nichtberücksichtigung Benzemas sogar zu konjugieren wusste: "Du verstehst es nicht, ich verstehe es nicht, niemand versteht es."
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Real-Trainer Zidane dürfte eine wichtige Rolle als Vermittler gespielt haben
Zidane dürfte eine wichtige Mittlerrolle eingenommen haben, seine Vita prädestinierte ihn. Er wurde mit Deschamps Welt- und Europameister, auch bei Juventus spielten sie zusammen. Auf der anderen Seite kann sich Zidane wie wenige andere Menschen in Benzema hineinfühlen: Ihre Wurzeln liegen im Maghreb; beide wissen, was Marginalisierung in Frankreich heißen kann, beide haben ihre Herkunft nicht vergessen. Deschamps sagte, er habe lange mit Benzema gesprochen. Aber womöglich war es Zidane, der in ihm die Überzeugung wachsen ließ, es sei an der Zeit, zu sagen: "Jeder hat das Recht, Fehler zu machen." So jedenfalls sagte es Deschamps am Dienstag; und es war nicht zuletzt auf die Valbuena-Affäre gemünzt, die Benzema 2015 sogar eine Nacht im Kerker einbrachte.
Einige Freunde aus alten Zeiten waren an ein Video gekommen, auf dem Valbuena und dessen Lebensgefährtin bei ehehygienischen Exerzitien zu sehen waren. Benzema soll Valbuena "geraten" haben, ein größeres "Oh, là là" zu vermeiden: das ginge am besten, wenn er den Kompagnons, die das Video hätten und zerstören könnten, 150 000 Euro zahle. Valbuena unterband die Verbreitung aber lieber mithilfe der Strafverfolgungsbehörden - und zeigte auch Benzema an. Nun kommt es im Oktober in Versailles zum Prozess wegen mutmaßlicher Erpressung, Benzema wird als Mitbeschuldigter geführt, ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung - und solange ist der Status als Fußballhoffnungsträger intakt.
"Es ist eine großartige Entscheidung", sagte Verbandspräsident Noël Le Graët, der sonst immer gegen Benzema gewettert hatte und nun die Erlaubnis zum Comeback erteilte. Auch im Lichte der Ladehemmung Girouds und der Formschwäche Griezmanns. Wann und wo er sich mit Benzema unterhalten habe, wollte Deschamps nicht verraten, auch nicht worüber. Wohl aber ließ er erkennen, dass es eine sehr lange Unterredung gewesen sei, in der er vieles verziehen hat.