Die Menschen in Russland sind begeisterungsfähige Gastgeber dieser Europameisterschaft, das haben sie am Wochenende bewiesen. Am Samstag, zum Auftaktspiel ihrer Mannschaft gegen Belgien, der ersten von sechs Vorrundenpartien in Sankt Petersburg, war außerdem Nationalfeiertag, das trug zu einer volksfestartigen Stimmung bei.
An dem nach einem russischen Dramatiker und Diplomaten benannten Gribojedow-Kanal, der zur Fan-Meile im Schatten der Auferstehungskirche führt, spielte am Mittag ein Trompeter, er stand auf dem Geländer zur Italienischen Brücke, und es klang tatsächlich ein wenig, als lausche man aus dem Fenster zum Westen: Er spielte unter anderem die Marseillaise und die Ode an die Freude. Vor dem Stadion wurden später Fotos gemacht, auf denen sich russische und belgische Fans umarmten, auch wenn die Volunteers von der Uefa überall tapfer in Megafone mahnten, bitte die Abstandsregeln zu beachten.
Einige russische Fans, dem Klang nach zu urteilen war es eine große Zahl der knapp mehr als 26 000 im Stadion, haben ihre Anteilnahme allerdings anders geäußert. Und es war hinterher ein weitaus größeres Thema als die gute Stimmung, wie die La Ola kurz vor Schluss etwa, der 0:3-Niederlage zum Trotz. Das Thema war dies: Vor dem Anstoß sanken Belgiens Nationalspieler kurz auf die Knie, als Zeichen im Kampf gegen Rassismus. Auch der spanische Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz und seine Assistenten machten mit. Und dazu hallten gellende Pfiffe durch die Arena, ein beklemmender Sound. Die Russen blieben stehen.
Ob es abgesprochen gewesen sei, sich nicht an einem Zeichen gegen Rassismus zu beteiligen? Was er zu den Pfiffen sage? "Das ist keine Frage, die mit Fußball zu tun hat. Wenn Sie eine haben, stellen Sie mir dazu eine", sagte Russlands Trainer Stanislaw Tschertschessow, sichtlich schlecht gelaunt. Die Video-Pressekonferenzen sind seine Sache ohnehin nicht. Und zu einem Politikum wie diesem sagte er da natürlich erst recht nichts. Denn so einfach, logisch und wichtig es klingen mag, sich unter Fußballmannschaften auf Symbolik gegen Hass und Diskriminierung einigen zu können, so verschieden sind dazu die Ansichten. Bei einem Turnier, das ja der Uefa zufolge die Einigkeit auf dem Kontinent zeigen soll. "Wir fordern die Besucher auf, Respekt vor Mannschaften und Spielern zu zeigen, die auf die Knie gehen", teilte der Verband am Sonntag mit.
Wales und Schweiz knieten bei ihrem EM-Auftakt gemeinsam
Am heftigsten polarisiert das Thema in England, dem Land des Brexit, wo die Spieler des Nationalteams nicht erst zur EM begannen, auf die Knie zu gehen - und dafür von Teilen der eigenen Fans ausgebuht werden. In einer Botschaft an ihre Anhänger erklärte der Verband seine Position: Es handle sich um einen friedlichen Protest gegen "Diskriminierung, Unrecht und Ungleichheit". Die Geste gehe bis ins 18. Jahrhundert zurück und zeige keine Verbindung zu einer politischen Ideologie oder Organisation.
Auf der Insel ist die Debatte in der Politik angelangt, es gibt neben lobenden auch kritische Stimmen wie jene der Bildungsministerin Gillian Keegan von den konservativen Tories, die der Auffassung ist, das Niederknien sei "spalterisch". Zur Einordnung gibt es ironische Kommentare wie jenen im Independent, der sich mit dem Vorwurf beschäftigte, den manche England-Fans in den Kommentarspalten ernsthaft vorbringen: Dass Englands Team "Marxismus" unterstütze, weil die Symbolik im Zuge der "Black Lives Matter"-Proteste Berühmtheit erlangte - und die entsprechende Organisation kapitalismuskritisch ist. "Hehe", denke Stürmer Harry Kane "offensichtlich", so schreibt es die Zeitung: "Heimlich machen wir das, um die Anliegen der arbeitenden Masse voranzubringen!"
Die Franzosen zeigten die Geste im Freundschaftsspiel gegen Wales, sonst nicht
Wie sehr das Thema zum Aufreger taut, zeigt eine Auflistung des Boulevardblatts Sun aller 24 EM-Teilnehmer, unterteilt in Knieende und Nicht-Knieende. Wales hat es im Auftaktspiel schon getan, genau wie der Gegner aus der Schweiz. Die Franzosen knieten im Freundschaftsspiel gegen Wales, sonst aber nicht. Die Belgier sind demnach das einzige nicht-britische Team mit entsprechender Initiative. Angesprochen auf die negative Reaktion des russischen Publikums sagte Belgiens Trainer Roberto Martínez, er glaube, "das ist nicht neu". Es habe in Europa "viele Reaktionen" gegeben. Und da hat er natürlich Recht.
Irland wurde beim Test in Ungarn schon fürs Niederknien ausgebuht, es war eine ähnlich verstörende Szene wie am Samstag. Ungarns Verband MLSZ, dem rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orban nahestehend, gab dazu auch eine Stellungnahme heraus: Fifa und Uefa "erlauben keine Politisierung auf dem Platz", das Nationalteam werde nicht knien.
Die Ungarn, wie auch die Polen im Testspiel gegen England, deuteten stattdessen auf einen Schriftzug des europäischen Fußballverbands auf ihrem Ärmel. Dort steht "Respekt".