Thorgan Hazard kann gerade einen Luxus nicht mehr so richtig genießen, auf den er sich fast immer verlassen durfte. Kurz vor Beginn der EM hat der belgische Flügelspieler von Borussia Dortmund einmal mehr über ein Thema gesprochen, das ihn sein ganzes Leben lang begleitet: der Bruder von Eden zu sein. Und er äußerte sich wohlwollend darüber. Im Schatten des berühmteren Hazard von Real Madrid zu stehen, das sei "manchmal von Vorteil". So habe er ähnlich wie Eden eine schwierige Saison hinter sich, geprägt von viel Ausfallzeit wegen eines Muskelfaserrisses - aber über ihn, Thorgan, werde nicht so viel berichtet.
Während der EM könnte es mit dem komfortablen Schattendasein nun allerdings kompliziert werden. Es ist zwar schon noch so, dass sehr viel über Eden Hazard, 30, berichtet wird. Wird er fit? Hat er Idealgewicht? Hat er etwa gelacht, als Real Madrid gegen seinen Ex-Klub Chelsea aus der Champions League ausschied? Und Thorgan Hazard, 28, redet weiterhin auch über seinen älteren Bruder: Es sei nicht so einfach, mit der spanischen Presse klarzukommen, verteidigte er ihn. Doch beim Turnier ist bislang er derjenige der beiden Hazards, der mehr auf dem Platz zu sehen ist. Und mit seiner etwas unverhofft prominenten Rolle ist er im Team nicht allein.
In den Tagen vor dem zweiten EM-Spiel der Belgier an diesem Donnerstag in Kopenhagen gegen Dänemark (18 Uhr, ZDF) gab es einige gute Nachrichten zu dem Thema, das die "Rode Duivels" oder "Diables Rouges", die zu den Turnierfavoriten zählen, in besonderem Maße beschäftigt: die Verletzten. Kevin De Bruyne, der so wichtige Mittelfeldspieler, trainierte am Montag wieder mit der Mannschaft; er hatte im Champions-League-Finale Frakturen im Gesicht erlitten, die operiert werden mussten. Axel Witsel wiederum, der für die Stabilität hinter De Bruyne ebenfalls so wichtige Dortmunder, war der Grund, warum in der Pressekonferenz im Teamquartier in Tubize nahe Brüssel am Dienstag zwei Ärzte auf dem Podium erschienen, Geert Declercq und Lieven Maesschalk. Sie erklärten, dass eine Rückkehr des 32-Jährigen nach einem Achillessehnenriss im Januar nun medizinisch vertretbar sei. "Das Risiko ist nicht bei null, aber es ist ein kalkulierbares. Nach der Diskussion mit Trainer und Spieler denken wir, dass Axel spielen kann", erläuterte Declerq.
Dass die beiden auf Anhieb wieder auflaufen, das ist nicht unwahrscheinlich, aber es ist auch nicht sicher. Und es gab ja unmittelbar nach dem souveränen 3:0 gegen Russland zum Auftakt auch gleich wieder "schlechte Nachrichten", wie Trainer Roberto Martínez ausführte. In Außenverteidiger Timothy Castagne hatte sich während des Spiels der nächste Belgier Frakturen im Gesicht zugezogen. Castagne reiste am Dienstag für die notwendige Operation aus dem Teamquartier ab und wird für den Rest der EM ausfallen. Es dürfte also weiterhin Spieler aus der vermeintlich zweiten Reihe brauchen, um Belgiens hohe Ambitionen zu erfüllen.
"Ich bin 30 Jahre alt und keine 19 mehr. Ich bin Kapitän meines Vereins", sagt Boyata
Beim Auftaktsieg in Sankt Petersburg war es zwar zuvorderst der zweifellos unersetzliche Romelu Lukaku gewesen, dem die entscheidenden Aktionen in der Manier eines Weltklassestürmers gelangen. Aber seine Zulieferer waren jene, die man nicht unbedingt erwartet hätte: Thorgan Hazard, der Lukakus Treffer zum 1:0 einleitete, noch eher als dessen Vereinskollege Thomas Meunier. Der Außenverteidiger kam in der ersten Halbzeit für den verletzten Castagne, erzielte das 2:0 und bereitete Lukakus Tor zum 3:0 mit einem erstaunlichen Dribbling und einem noch erstaunlicheren Steilpass vor.
Wie Hazard hat auch Meunier, 29, keine gute Saison beim BVB hinter sich. Seit seinem Wechsel von Paris Saint-Germain im vergangenen Sommer überzeugte er selten, schien nie so recht in die Abläufe im Offensivspiel der Dortmunder hineinzufinden und fiel eher mit Fehlern in der Defensive auf. Nun, nach seinem überraschend starken Auftritt zum Turnierstart, lobte ihn Nationalcoach Martínez in den höchsten Tönen. Meunier dürfte fortan als rechter Flügelspieler im belgischen System mit Dreierkette von Beginn an auflaufen - womöglich gemeinsam mit einem weiteren Bundesligaspieler, den so mancher vielleicht nicht in der Startelf erwartet hätte: Dedryck Boyata von Hertha BSC, der gegen Russland in der Dreierkette mit Jan Vertonghen und Toby Alderweireld verteidigte. "Ich bin 30 Jahre alt und keine 19 mehr. Ich bin Kapitän meines Vereins. Ich bin schon jemand mit Erfahrung", kommentierte er die allgemeine Überraschung über seine Rolle. Nicht nur weil Belgiens Kapitän Vertonghen den Platz gegen Russland ebenfalls angeschlagen verließ, dürfte Boyata weiter wichtig in den Planungen von Trainer Martínez bleiben.
Das wird ebenfalls für Thorgan Hazard gelten, auch wenn es bei seinem älteren Bruder nach zwei schwierigen, von Verletzungen geprägten Jahren seit seinem Wechsel nach Madrid womöglich langsam aufwärts geht. Eden Hazard wurde gegen Russland eingewechselt, für die letzten 18 Minuten; es war sein längster Länderspieleinsatz seit November 2019. Mit der spanischen Presse will er es wohl auch selbst aufnehmen. In der Zeitung Het Nieuwsblad widersprach er Wechselgerüchten. Er werde Madrid "nicht als Gescheiterter verlassen", sagte er.