Paralympics:Der Posterboy des Behindertensports

German Paralympic Team Kit Handover; Popow

Heinrich Popov bei einem Foto-Termin in Mainz.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Leichtathlet Heinrich Popow tritt zum letzten Mal bei den Paralympics an. Sein Ehrgeiz hat sich verändert - er freut sich mehr über Liebesbriefe.

Von Sebastian Fischer

So eine Goldmedaille macht erst glücklich und dann einsam, Heinrich Popow weiß das genau. Damals, 2012 im Olympiastadion von London, blitzten beim 100-Meter-Lauf der Oberschenkelamputierten die Kameras. Popow wackelte mit dem Kopf wie eine Taube auf Futtersuche, stampfte an der Konkurrenz vorbei, reckte die Hände in die Luft, lächelte selig. Ein paar Tage später saß er allein auf dem Sofa, der Koffer unausgepackt, das Handy voller ungelesener SMS. Er dachte: Ich muss hier raus, das geht so nicht weiter.

Heinrich Popow, 33, bestreitet in Rio de Janeiro seine vierten Paralympics, die am kommenden Mittwoch mit der Eröffnungsfeier beginnen, es sollen seine letzten werden. Er ist Favorit im Weitsprung, auch über 100 Meter kann er noch mal eine Medaille gewinnen, doch eine Medaille mehr oder weniger wird die Geschichte seiner Laufbahn nicht mehr umschreiben, dafür hat sie zu viele Kapitel. Es ist die Geschichte darüber, was der Sport einem Menschen schenken kann, und wie viel der Mensch zurückzugeben vermag.

Ein Sonntag im August, vier Wochen vor den Paralympics. Auf der Tartanbahn im Bundesleistungszentrum Kienbaum nahe Berlin zieht Popow in konzentrierten Sprints Gewichte. In den Pausen ist er Entertainer, macht Witze über seine Prothese und über sich selbst. Es gibt wenige Behindertensportler, die so bekannt sind wie er, die nicht erst von ihrem Schicksal erzählen müssen, wenn sie sich vorstellen. Popow, das ist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr der Mann, dem sie als Kind wegen einer Knochenkrebserkrankung das linke Bein oberhalb seines Knies abnahmen. Popow, das ist der Prothesensprinter aus der Joghurtwerbung.

Er hat viel für die Professionalisierung des Behindertensports in Deutschland getan, hat jedem, der es sehen wollte, den Rest Oberschenkel gezeigt, der ihm geblieben ist und demonstriert, wie er ihn in einen Schaft steckt, der den Stumpf durch ein Ventil, das seine Haut ansaugt, mit der Prothese verbindet. "Ihr könnt mich gerne vor den Karren spannen", hat er 2012 über seine Rolle in der Öffentlichkeit gesagt.

Doch seit London ist etwas anders. Der Karren ist auch ohne ihn gefahren. Und Popow gefällt nicht jede Route.

Sprinter Felix Streng schwärmt davon, im Training von Popow zu lernen

Neben ihm auf der Bahn trainiert die 4 x 100-Meter-Staffel, die schnellsten beinamputierten Männer Deutschlands: David Behre, Johannes Floors, Felix Streng - und der Weitspringer Markus Rehm. Sie sind Medaillenfavorit. Vor vier Jahren war Popow noch Teil der Staffel, gewann Bronze. Die Staffel ist das beste Bild für Popows neue Rolle in der paralympischen Leichtathletik: Er ist der Papa. Alle fünf starten für Bayer Leverkusen, Popow war der Erste, er hat Behre, 29, bei einer Biker-Party von der Leichtathletik überzeugt, für Streng und Floors, 21, ist er ein Mentor. Und Rehm, 28, hat Popow auf einer Messe entdeckt und mitgeschleppt. Rehm ist jetzt das neue Zugpferd vor dem Karren.

Als Popow 2012 am Ziel war, begann Rehms Aufstieg erst so richtig. Als Popow in Leverkusen 2013 Weltrekord lief über 100 Meter, sprachen schon alle über Rehm, der auf seiner Unterschenkelprothese unter dem rechten Knie Weltrekord sprang. 2014 wurde Rehm deutscher Meister gegen Nichtbehinderte; weil er die Norm erfüllte, durfte er starten. 2015 sprang er 8,40 Meter weit, in London wäre er damit Olympiasieger geworden. Die Aufmerksamkeit für den Behindertensport, sie war so groß wie nie. "Heinrich", sagt Karl Quade, Chef de Mission des deutschen Paralympics-Teams, "hatte über Jahre ein Alleinstellungsmerkmal." Vorbei.

Rehm kämpfte mit Gutachten für sein Startrecht bei den Nichtbehinderten, das ihm der Weltverband verwehrt, weil er nicht zweifelsfrei belegen kann, dass seine Prothese keinen Vorteil darstellt. Popow sagte: Lass den Vergleich. Rehm wollte für den Behindertensport werben. Popow wollte nicht, dass Rehm für alle spricht, vor allem nicht für ihn, der mit seiner Behinderung niemals so weit springen könnte. Rehm will Inklusion im Leistungssport. Das geht nicht, sagt Popow.

Es geht um die Bedeutung einer Sportbewegung

Die Beziehung von Rehm und Popow, der Posterboys des Behindertensports, hat gelitten. "Ich wäre froh, wenn wir wieder ein gutes Verhältnis haben könnten", sagt Popow, doch dafür sind die Positionen wohl zu unverrückbar. Für Popow, so stand es in einem Dossier in der Zeit, sei Rehm ein Behinderter, der mit Behinderten nichts mehr zu tun haben will. Popow hat der Satz erschreckt, als er ihn geschrieben sah, so hätte er das nie gesagt. Aber der Satz zeigt die Tragweite der Auseinandersetzung, in der es nicht nur um die Härte von Sprungfedern geht, sondern um die Bedeutung einer Sportbewegung.

Als Popow 2001 mit 18 zu Bayer Leverkusen kam, war der Behindertensport noch klein. Mal zeigen, was die Behinderten so können und dafür höflichen Applaus bekommen, so nahm er das wahr. Mit jeden Paralympics wurde der Sport professioneller. 2004, bei Popows ersten Spielen, ging vor dem Wettkampf seine Prothese kaputt. Mit seinem Vater kaufte er in Athen ein Paar Inline-Skates, schraubte die Schnallen ab, schraubte sie an die Prothese, fertig. Als in diesem Jahr Nuancen seiner Karbonfeder nicht stimmten, hat er mit seinem Sponsor so lang gefeilt, bis es perfekt war. Die Stadien wurden voller, bis sie in London ausverkauft waren. Auf den Werbeplakaten stand "Superhumans", Supermenschen. "Techno-Doping" hieß ein Vorwurf, mit dem sich Popow konfrontiert sah, er kam vom Sprinter Wojtek Czyz, es ging um Popows künstliches Kniegelenk. Die Kritik vermieste Popow die Freude, doch sie war haltlos.

Nun, in Rio, bekommen Paralympics-Athleten erstmals dieselben Medaillenprämien wie Olympia-Sportler. Doch der Fortschritt hat eben auch eine andere Seite. Auf den Sportplätzen, sagt Popow, höre er plötzlich Kinder mit zwei Beinen rufen, Eltern tuscheln: Ihr habt Prothesen, ihr springt wie Kängurus, ihr lauft wie Geparden, ihr seid im Vorteil. "Ich mache mir Sorgen", sagt Popow. Sorgen um den Sport von Menschen mit Behinderung, und wie ihn die Menschen ohne Behinderung sehen; Sorgen um Fronten, die wachsen, wo er und Rehm Grenzen verschieben wollen.

Für Popow kamen in den letzten Jahren Verletzungen hinzu, 2014 das Knie, 2015 der Fuß. Er denkt jetzt anders über die Dinge, über das Leben, als noch vor ein paar Jahren. Er sitzt in Kienbaum an der Sportler-Bar, frisch geduscht, mit einem Schweißfilm auf der Stirn. Er sagt: "Als Leistungssportler bin ich Egomane. Aber ich will zurück in die Gesellschaft. "

Popow fliegt um die Welt, um Kindern mit Prothesen das Laufen beizubringen

Heinrich Popow, der als Kind aus Wut auf jene, die mit dem Finger auf ihn zeigten, mit dem Sport begann; der Sprücheklopfer, der es allen zeigen wollte und am Sport gut verdient hat, er will etwas zurückgeben. Der junge Felix Streng spricht mit leuchtenden Augen von der Trainingsarbeit mit Popow, von Psychotricks im Startblock, die er sich abschaut. Der genauso junge Johannes Floors sagt: "Es muss immer jemanden geben, der einen Meilenstein setzt." Doch noch mehr als die Nachwuchsathleten sind es Kinder, die er begleiten will. Popow hat bis 2014 als Informatiker gearbeitet, doch mit 31 zum Orthopädie-Techniker umgeschult. Für seinen Arbeitgeber und Prothesenbauer fliegt er um die Welt, mit einem Koffer voller Knie- und Fußgelenke, um mit Amputierten zu trainieren. In Japan schenkte ihm ein Mädchen einen Liebesbrief. Im Vergleich mit dem Leistungssport, sagt er, "ist das ehrlicher, da gehe ich mehr drin auf".

Am Donnerstag ist Popow in Rio angekommen, es gingen ein paar Sätze von ihm um die Welt. "Affentheater" nannte er die längeren Prothesen der Konkurrenz, und zum Ausschluss Russlands sagte er, der Schritt sei "lächerlich", wenn es der erste und letzte im Anti-Doping-Kampf sei. Popow weiß, welche Sätze es in Überschriften schaffen. Wenn er gefragt wird, dann sagt er sie halt, immer noch. Und wenn er in Rio beim Anlauf an der Weitsprunggrube steht oder im Startblock kniet, wird ihn natürlich der Ehrgeiz packen. Im Weitsprung hat er vor zwei Wochen noch mal seinen Weltrekord überboten, 6,77 Meter. Popow hat abgenommen, ist in Form. Und trotzdem: Sein Ehrgeiz, sagt er, sei anders als in den Jahren zuvor, gesünder.

Neulich hat er zu Hause im Kinderzimmer im Westerwald geschlafen, dort steht ein Schrank voller Schätze. Silberne Lorbeerblätter, insgesamt 27 Medaillen, olympische in allen Farben. Ein Glas mit Sand aus der Sandgrube von Athen, ein Stück Tartan aus Peking, eines aus London. Und er dachte, ohne Wut: Es reicht jetzt bald.

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