Süddeutsche Zeitung

Behindertensport:Der Rassel hinterher

In Würzburg lernen Blinde, dass auch sie Fußball spielen können. Nun gründete auch der TSV 1860 eine Abteilung für Blindenfußball.

Von Fabian Swidrak

Sebastian Schäfer achtet nicht auf den Torhüter, als er sich den Ball zurecht legt. Psychische Tricks und Spielchen braucht er nicht, um den Strafstoß zu verwandeln. Er guckt den Keeper auch nicht aus und entscheidet sich dann für die andere Ecke. Schäfer verlässt sich auf sein Gehör, nimmt zwei Schritte Anlauf, schießt und trifft. Erst oben rechts, dann unten links. "Wie weit?", will er wissen, als der Ball dann doch einmal sein Ziel verfehlt. Er selbst kann es nicht sehen. Schäfer ist blind.

Als Nationalspieler zählt er zu den besten Blindenfußballern Deutschlands. Enge Ballführung, Dribblings, präzise Schüsse - eine Rassel im Ball und die Anweisungen sehender Betreuer machen es möglich. Einmal in der Woche treffen sich Schäfer und seine Mitspieler zum Training. Der 31-jährige Jurist kickt für den BFW/VSV Würzburg, den einzigen bayerischen Klub in der Blindenfußball-Bundesliga.

Erschöpft nimmt Schäfer seinen Kopfschutz und die Schwarzbrille ab, als die Trainingseinheit zu Ende ist. Den Sichtschutz muss er tragen, obwohl er blind ist. Alle Blindenfußballer müssen das. Denn blind ist nicht gleich blind. Viele Spieler in der Bundesliga verfügen noch über einen geringen Sehrest, können zum Beispiel hell von dunkel unterscheiden. Die Brille ermöglicht gleiche Bedingungen für alle.

Der TSV 1860 hat auch eine neue Abteilung für Blindenfußball

Auch Schäfer hatte als Kind ein Sehvermögen von fünf bis zehn Prozent, lernte normal lesen und schreiben. "In der Grundschule habe ich im Sport mit den anderen Kindern Fußball gespielt. Aber wenn die keine Rücksicht auf mich genommen haben, hatte ich keine Chance", erinnert er sich. "Mein Sportlehrer hat mich daher immer die Freistöße und Elfmeter schießen lassen."

Inzwischen hat Schäfer eine Weltmeisterschaft gespielt. Ende August kämpft er bei der Europameisterschaft in Hereford in England um die Teilnahme an den nächsten Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro. "So etwas habe ich als blinder Junge bei der Bundesliga vor dem Radio nie für möglich gehalten", sagt er. 2009 sah er im Fernsehen einen Beitrag über Blindenfußball und wurde so auf den Sport aufmerksam. "Das klang damals unvorstellbar. So, als könnte ein Blinder Fußball spielen."

Und wie er das kann.

An insgesamt 17 Standorten wird in Deutschland mittlerweile blind gegen den Rasselball getreten. Neun Mannschaften spielen derzeit in der 2008 gegründeten Bundesliga. Von Mai bis September treffen sich dafür einmal im Monat alle Mannschaften an einem Ort und tragen ihre Spiele in Turnierform aus. Das erhöht die Attraktivität für die Zuschauer und reduziert die Reisestrapazen der Spieler. Die Einzugsgebiete der Klubs sind groß - auch in Würzburg, wo Spieler teilweise in Augsburg oder Hannover wohnen und arbeiten.

Sportlich läuft es für die Würzburger trotz zwei Nationalspielern im Kader in dieser Saison nicht rund. Einen Punkt hat die Mannschaft nach sechs von acht Spielen gewonnen. Erst am Wochenende setzte es beim dritten Turnierspieltag in Dortmund zwei weitere Niederlagen. Gegen Tabellenführer SF/BG Blista Marburg verloren die Unterfranken deutlich 1:7, die Partie gegen Rekordmeister MTV Stuttgart endete 0:1. Immerhin: Absteigen kann man aus der Blindenfußball-Bundesliga nicht.

Würzburg ist Gründungsmitglied der Liga, seit 2006 gibt es den Verein, der auf dem Gelände des namensgebenden Berufsförderungswerks Würzburg (BFW), einem Bildungszentrum für blinde und sehbehinderte Menschen trainiert. Einige der Würzburger Spieler werden oder wurden dort umgeschult und ausgebildet, unter anderem von Enrico Göbel. Der 33-jährige Diplom-Informatiker bereitet hauptberuflich blinde Menschen auf einen Beruf in der IT-Branche vor. In seiner Freizeit spielt auch er Blindenfußball. Als Torhüter ist er der einzige sehende Spieler auf dem Platz und unterstützt seine Vordermänner lautstark bei der Koordination.

Wie in Würzburg ist Blindenfußball oft eng mit Bildungseinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte verbunden. Doch auch Profi-Klubs mischen in der Bundesliga mit: Der FC Schalke 04, St. Pauli, der Chemnitzer FC und Eintracht Braunschweig. Zuletzt gründete der TSV 1860 München als erster bayerischer Profi-Klub eine Blindenfußball-Abteilung, die mittelfristig am Bundesliga-Spielbetrieb teilnehmen soll. Der beeindruckende Sport kann davon nur profitieren.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2015
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