Behindertensport:"Das macht unseren Sport kaputt"

Behindertensport: Da wird alles probiert“: Die Einteilung in Wettkampfklassen kann im Para-Sport entscheidend sein.

Da wird alles probiert“: Die Einteilung in Wettkampfklassen kann im Para-Sport entscheidend sein.

(Foto: Thomas Lovelock/ AFP)

Eine Anhörung im britischen Parlament stellt die Fairness der Klassifizierungen im Para-Sport in Frage. Auch in Deutschland regt sich Kritik.

Von Sebastian Fischer

Wenn ein Sportler an einem Tag im Rollstuhl sitzt und an einem anderen aufsteht, dann könnte das eine schöne Geschichte sein. Doch es ging vorige Woche in London nicht um medizinische Wunder. Es ging um Betrug.

In einer Anhörung beschäftigte sich im Unterhaus des britischen Parlaments der Ausschuss für Digitales, Kultur, Medien und Sport mit dem Klassifizierungssystem im Behindertensport. Tanni Grey-Thompson, 48, war als Zeugin geladen, eine der erfolgreichsten paralympischen Athletinnen der Geschichte Großbritanniens, und Michael Breen, der Vater einer Weitspringerin und Kritiker des Systems, das Behindertensportler ihren Wettkampfklassen zuordnet. Grey-Thomspon und Breen beschuldigten britische Sportler, mit manipulierten Untersuchungen in schwerer behinderte Schadensklassen gelangt zu sein. Sie warfen Trainern und Funktionären vor, den Betrug zu begünstigen und kritische Athleten unter Druck zu setzen, zu schweigen. Das Klassifizierungssystem des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), sagte Grey-Thompson, erfülle seinen Zweck nicht.

Die Vorwürfe halten die einen für einen Skandal, die anderen für eine Hexenjagd. Breen nannte Namen, etwa jenen der Paralympics-Siegerin Hannah Cockroft, die in der Klasse T34 für cerebrale Lähmungen seit Jahren Rollstuhlrennen dominiert. Sie sei auf Wirken ihres Trainers in eine Klasse versetzt worden, die ihr Handicap nicht rechtfertige. Peter Eriksson, ihr früherer Trainer, bezichtigte Breen der Lüge. Der Sprecher einer weiteren beschuldigten Athletin sprach Breen die Glaubwürdigkeit ab und nannte die Vorwürfe "haltlos". Breen hat vor allem Konkurrentinnen seiner Tochter beschuldigt. Das IPC hatte die bereits 2016 formulierten Vorwürfe eigenen Angaben zufolge geprüft und entkräftet.

Und trotzdem beschäftigt nun ein altes Problem den paralympischen Sport, über das Athleten seit Jahren raunen. Ein Problem, das nun wohl eine Bühne findet.

Die BBC hatte schon im September über Manipulationstechniken berichtet: über Schwimmer mit Cerebralparese, die vor den rund einstündigen Untersuchungen vor Wettkämpfen mit Kälte konfrontiert werden, um Spasmen zu verschlimmern; über Athleten, die zur Klassifizierung im Rollstuhl erscheinen, obwohl sie ihn im Alltag nicht nutzen. Am Donnerstag, zwei Tage nach der Anhörung, berichtete der Guardian über weitere Zeugen, die in Schreiben an den Sportausschuss die Vorwürfe bestätigen. "Das System der Klassifizierung", schreibt ein früherer Sprinter, "muss komplett erneuert werden, um es sicher und fair zu machen." Es ist solche Kritik, die auch in Deutschland Fürsprecher findet.

Helmut Hoffmann ist Sportarzt für Leichtathletik beim Deutschen Behindertensportverband (DBS). Er hat die Geschehnisse in England aus der Ferne verfolgt, überrascht sei er nicht, sagt er: "Es wird betrogen, das ist so." Vielen Athleten werde gesagt, wie sie sich bei Klassifizierungen zu verhalten haben, um möglichst günstig für ihren Erfolg eingeordnet zu werden. "Da wird alles probiert." Schließlich sei die Klassifizierung entscheidend für die Karrieren der Athleten, die vom Sport leben wollen. Auch in Deutschland sei das vorstellbar. "Das macht unseren Sport kaputt", sagt Hoffmann. Den Fehler sieht er jedoch im System, beim Weltverband.

Das IPC genießt nicht erst seit den Paralympics in Rio 2016 einen guten Ruf. Anders als das olympische IOC beschlossen die Behindertensport-Funktionäre den Ausschluss Russlands wegen staatlich geförderten Dopings. Der Verband wurde gelobt für eines der im Weltsport seltenen Zeichen im Kampf gegen Betrug. Doch Fehler bei der Klassifizierung und Athleten, die gegen schwerer behinderte Konkurrenz gewinnen, könnten der Glaubwürdigkeit der Paralympics schaden. Diese stehen für inspirierende Geschichten, für Fairness und Sportsgeist. Die Debatte könnte zu einer Art Dopingproblem des Behindertensports werden, glaubt Hoffmann.

Fehler passieren am häufigsten bei der komplexen Untersuchung von Athleten mit spastischen Störungen, die den Klassen von T/F38 bis T/F31 zugeordnet werden. Jeder Athlet wird national und international klassifiziert, oft weichen die Einschätzungen ab. Die Körperfunktionen können sich anders als bei Amputationen auch über Jahre verändern. Dass Fehler vorkommen, ist für Kritiker wie Hoffmann nicht der Kern des Problems. Doch Fehler, sagt er, würden in Kauf genommen: "Manipulation sind Tür und Tor geöffnet." Hoffmann, der früher selbst Klassifizierer war, fordert mehr Mediziner bei den Kontrollen, bei denen zunehmend Physiotherapeuten eingesetzt werden. Und vor allem fordert er deren Unabhängigkeit: Es bräuchte eine Institution analog zur Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, die eigenständig Klassifizierungen vornimmt, sagt er.

Nun ist es nicht so, dass das IPC die Kritik ignoriert. Zwar weist der Verband die Anklage zurück, das Klassifizierungssystem erfülle seinen Zweck nicht. Doch man habe die Pflicht erkannt, "Prozesse weiterzuentwickeln", heißt es in einer Stellungnahme im Guardian. Jüngst verkündete der Verband Klassifizierungsänderungen, die am stärksten die Athleten der Klassen T/F38 bis T/F31 betreffen: Vom 1. Januar 2018 an müssen sie alle mit neuen Testmethoden evaluiert werden und sich einer neuen Klassifizierung unterziehen, bevor sie bei internationalen Wettkämpfen starten. Hoffmann hält das für "Aktionismus". DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher sagt, es sei ein "wichtiger Schritt".

Doch die Debatte wird weitergehen. Sätze wie die des früheren paralympischen Sprinters Kyle Powell werden bleiben. "Als ich die Welt des Para-Sports kennenlernte, war ich beeindruckt und inspiriert von all den Champions", schreibt er: "Aber nach ein paar Jahren sah ich, dass manche Helden scheinbar unfaire Vorteile durch falsche Klassifizierungen erlangt hatten." Das Wort Helden hat Powell in Anführungszeichen gesetzt.

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