Behindertensport:Bereit für den "Para-Super-Sommer"

Germany v South Africa - SASOL Wheelchair Basketball; Rollstuhlbasketball - Germany v South Africa - SASOL Wheelchair Basketball

Rollstuhlbasketball ist ein beispielhafter, inklusiver Sport für Frauen und Männer sowie Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungsgraden.

(Foto: Getty Images)
  • In den nächsten Tagen finden in Hamburg die Rollstuhlbasketball-WM und in Berlin die Para-Leichtathletik-EM parallel statt.
  • Die Veranstaltungen sollen einen Blick darauf geben, wie gut der Behindertensport derzeit in Deutschland ankommt und wie er sich noch entwickeln könnte.

Von Sebastian Fischer, Hamburg

Das erste Viertel ist vorbei, die deutschen Männer führen gegen Marokko 22:6, da muss der Hallensprecher den Zuschauern etwas beichten. Sie haben einseitigen, aber hochklassigen Sport gesehen, sie wirken gut unterhalten. Er müsse da jetzt mal was fragen, sagt also der Hallensprecher: "Wer ist heute zum ersten Mal beim Rollstuhlbasketball?" Die Menschen heben die Arme und jubeln, manche winken mit Schaumstofftafeln. Wunderbar, sagt er: Er selbst sei nämlich auch zum ersten Mal da.

"Para Super-Sommer" nennt der Deutsche Behindertensportverband, kurz DBS, was am Donnerstag begann und bis zum Ende der kommenden Woche dauert: Hamburg trägt elf Tage lang die Rollstuhlbasketball-Weltmeisterschaft aus, Berlin von Montag an die Europameisterschaften der paralympischen Leichtathletik. Zwar fanden in den vergangenen Jahren regelmäßig paralympische Events in Deutschland statt, 2017 die nordische Ski-Weltmeisterschaft im Bayerischen Wald, Rollstuhlbasketball-Europameisterschaften sogar zweimal seit 2007. Aber zwei Veranstaltungen parallel, in den beiden größten Städten des Landes, das gab es noch nicht. Das Budget der Veranstaltung in Hamburg beträgt rund fünf Millionen Euro. Und die EM in Berlin bewarb immerhin der Schauspieler Matthias Schweighöfer.

Es soll groß werden. Und so ist dieser Sommer auch eine Art Gradmesser für das Potenzial des Behindertensports in Deutschland: Wie groß kann er werden?

Karl Quade, 63, der die deutsche Delegation im März in Pyeongchang zum zwölften Mal als Chef de Mission zu Paralympics begleitete, hat die kleinen Zeiten miterlebt. 1994 hatte er gerade seine Laufbahn als Sportler beendet, als im Berliner Olympiastadion die Weltmeisterschaften der paralympischen Leichtathletik ausgetragen wurden. Wenn Quade sich erinnert, sagt er: "Nebenan das Schwimmbad war voll." Das Stadion war eher leer. Viel blieb nicht haften von der WM.

24 Jahre später schlägt Deutschland Marokko in Hamburg erwartet deutlich 84:40, der Hallensprecher fordert Stimmung. Und die Menschen machen Stimmung. Sie trommeln, rasseln und tröten.

Die Paralympics in London 2012 haben den Behindertensport bekannt gemacht, sie gelten als Wegmarke, seitdem gibt es so etwas wie Stars, mehr professionelles Marketing, Ausrichterverträge. Ausgewählte Spiele der Rollstuhlbasketball-WM werden im Fernsehen gezeigt, die Wettkämpfe der Leichtathletik-EM live gestreamt. Spätestens seit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 ist der Sport auch mit politischer Bedeutung aufgeladen, als Schritt zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. 46 Prozent der Menschen mit Behinderung in Deutschland treiben keinen Sport; wohl immer noch häufig, weil ihnen Zugänge und Kenntnis über Angebote fehlen. Es ist also wichtig, dass etwas haften bleibt.

Rollstuhlbasketball als Vorzeigesport für Inklusion

Wer darüber, also über Inklusion und Sport, sprechen möchte, der kann das ausgezeichnet mit Mareike Miller tun. Miller, 28, gewann 2012 mit den deutschen Rollstuhlbasketballerinnen Paralympics-Gold und war im Finale die beste Werferin. Ihr Lieblingssatz zum Thema stammt von Jan Haller, dem Kapitän der Männer-Nationalmannschaft: "Inklusion passiert bei uns einfach, da redet keiner drüber."

Rollstuhlbasketball gilt als besonders für Inklusion geeigneter Sport, weil ihn Menschen mit verschiedenen Behinderungen und Menschen ohne Behinderung gemeinsam ausüben können. In der Bundesliga, die als eine der am besten organisierten Ligen in Europa gilt und in den Thuringia Bulls aus Elxleben den aktuellen Champions-League-Sieger stellt, spielen auch Frauen und Männer zusammen. Miller begann mit dem Rollstuhlbasketball mit 18, nachdem sie nach mehreren Kreuzbandrissen nicht mehr Basketball spielen konnte. Sie kann zu Fuß gehen, der Rollstuhl ist für sie ein Sportgerät.

Die verschiedenen Einschränkungen werden auf dem Parkett durch ein Klassifizierungssystem ausgeglichen. Miller beansprucht 4,5 von 14 Punkten, die ein Team auf dem Feld zählen darf. Die am schwersten eingeschränkten Ein-Punkte-Spieler können ihre Beine nicht bewegen und den Rumpf nicht stabilisieren.

Der Sport ist taktisch wie athletisch anspruchsvoll, er ist hart und spektakulär. Um das zu verstehen, muss man nur einmal gesehen haben, wie die Spieler in Hamburg ihre Stühle im vollen Tempo herumreißen und dabei den Ball führen. Wie sie vorausschauend Räume zurollen oder Gegner blocken, dass es kracht. Anstatt von Vorurteilen zu sprechen, die sie als Fußgängerin unter Rollstuhlfahrern abgebaut habe, sagt Miller lieber: "Ich habe Wissenslücken gefüllt."

Sie erhofft sich von der WM zunächst mal sportlichen Erfolg, die deutschen Frauen gehören im Gegensatz zu den Männern zum erweiterten Favoritenkreis, im Auftaktspiel schlugen sie Außenseiter Algerien 87:24. Aber Miller erhofft sich auch in Zukunft weniger Berührungsängste gegenüber Menschen im Rollstuhl. Und sie wünscht sich Werbung für ihren Sport, der viel größer werden könne, glaubt sie, wenn ihn noch mehr Menschen verstehen, gerade die ohne Behinderung. Auf dem Gelände im Stadtteil Wilhelmsburg werden nicht nur die Spiele ausgetragen, sondern es wird auch der Rollstuhlsport erklärt. Man kann sich selbst in einen hineinsetzen und ausprobieren. Rund 10 000 Schüler sind eingeladen.

Unterschiede zwischen den Events in Hamburg und Berlin

Das Organisationskomitee in Hamburg profitierte von der letztlich gescheiterten Olympiabewerbung, die WM war ein Prestigeprojekt, deshalb ist das zu großen Teilen von der Stadt bereitgestellte Budget so hoch. Bei der Suche nach Sponsoren, sagt Organisationschef Anthony Kahlfeldt, habe er aber trotzdem oft den Satz gehört, es würde sich ja um eine Veranstaltung handeln, zu der eher Freunde und Verwandte mal eben vorbeischauen.

Dass das Potenzial nicht ausgeschöpft ist, selbst wenn viel gut läuft, zeigt auch der Blick nach Berlin. 2017 fanden die Weltmeisterschaften der paralympischen und der olympischen Leichtathletik nacheinander in London statt, sie wurden gemeinsam organisiert und beworben, die Athleten schwärmten. Als im Olympiastadion in der vergangenen Woche die Leichtathleten ihre EM austrugen, da lief vor und nach den Wettkämpfen ein Trailer auf der Videoleinwand für die Para-EM, die im kleineren Jahn-Sportpark ausgetragen wird. Kooperation gibt es eher wenig. DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher wirft das dem europäischen Leichtathletik-Verband vor, er nennt es "unangemessen". Andere sagen, man hätte die Veranstaltung weitsichtiger organisieren müssen. Organisationschef Klaas Brose spricht lieber über die Vorfreude auf die EM. Und er sagt: "Inklusion vollzieht sich über die Begegnung. Die Athleten sind da schon weiter als die Verbände."

Bilder von Begegnungen, die von diesem Sommer bleiben werden, sind in Hamburg schon am ersten Tag der WM zu sehen. Nach dem Sieg der deutschen Männer laufen zwei Jungen aufs Parkett, einer trägt ein Fußballtrikot. Er sammelt Autogramme der marokkanischen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft.

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