Süddeutsche Zeitung

Bebe Vio bei den Paralympics:Leuten zeigen, dass es geht, obwohl sie dachten, dass es nicht geht

Die italienische Fechterin, Paralympics-Siegerin, Menschenforscherin, Influencerin und Motivationslehrerin Bebe Vio schreibt in Tokio ihre erstaunliche Vita fort.

Von Thomas Hahn, Chiba

Für ein paar Augenblicke ist Bebe Vio da. Sie steht in der Interviewzone der Fechthalle bei den Paralympics von Tokio auf ihren Prothesenfüßen und telefoniert. Ihr Gesicht sagt, dass sie keine Zeit für Geplauder hat. Vielleicht ist sie auch noch etwas müde vom Abend zuvor, als sie bei der Eröffnungsfeier im Nationalstadion Italiens Fahne trug. Marta Mule, die Sprecherin der italienischen Mannschaft, fragt sie trotzdem, ob sie etwas Zeit für einen deutschen Reporter hätte. Knappes, nicht unfreundliches Nein. Außer an Wettkampftagen gibt sie gerade nur dem britischen Sender BBC Interviews. Sie hat noch ein paar schnelle Worte für ihre Eltern übrig, die jenseits der Absperrung warten. Dann verschwindet sie wieder durch die Tür Richtung Trainingshalle.

Beatrice Maria Adelaide Marzia Vio genannt Bebe erlebt gerade geschäftige Tage. Und das liegt nicht nur daran, dass die 24-jährige Fechterin aus Venedig in der Makuhari Messe von Chiba ihre sportliche Erfolgsstory von Rio 2016 fortschreiben will, also am Samstag mit dem Florett Gold gewinnen und am Sonntag mit der italienischen Mannschaft mindestens wieder Bronze. Bebe Vio ist eine moderne Paralympics-Siegerin. Das bedeutet, sie kümmert sich nicht nur um ihren persönlichen Erfolg und laufende Sponsorenverträge wie andere Siegertypen. Sie begleitet ihr Team, auch wenn sie nicht selbst ficht. Feuert es an. Trainiert nebenbei. Und, aufwendiger noch: Sie bringt sich so gut sie kann ein in das große paralympische Theater, das im Kampf für Inklusion auch die Gier nach Sensationen bedient. Sie erzählt ihre Geschichte, zeigt ihre Wunden, spricht von der Kraft des positiven Denkens. Sie kann das alles, weil sie eine italienische Begeisterung am eigenen Überleben antreibt. Aber Medaillenziele, Teamgeist und Sendungsbewusstsein zu verbinden, ist sicher auch ziemlich anstrengend.

4403 Starterinnen und Starter gibt es bei den Paralympics von Tokio, das sind 4403 Schicksale, hinter denen teilweise traumatische Erfahrungen von Krieg und Krankheit stecken. So gut wie alle, die bei den Wettkämpfen antreten, haben diese Erfahrungen verwunden, sonst hätten sie sich nicht im Leistungssport durchgesetzt. Und kaum jemand von ihnen hat ein Problem damit, davon zu erzählen, im Gegenteil. Ihre Geschichten und Persönlichkeiten machen den Erfolg der Paralympics aus, und Bebe Vio, die Fechterin ohne Hände und Füße, ist ein besonderer Glücksfall für die Nicht-Betroffenheits-PR des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). Ihr Ehrgeiz, ihr Witz, ihre Liebe zum Fechten - wenn Bebe Vio erzählt, ist das mehr als nur eine gute Geschichte.

Ein Wettlauf mit dem Tod begann. Und Bebe Vio gewann

Mit 14 war sie bei den Paralympics in London 2012, damals noch als Fackelträgerin und staunendes Sporttalent. "Da waren so viele paralympische Athleten", erzählt sie in der Netflix-Dokumentation "Rising Phoenix", "und ich habe mich in sie verliebt. Weil wenn du sie siehst, möchtest du wissen, was ihre Geschichte ist, warum sie im Rollstuhl sitzen oder keine Beine mehr haben." Sie hat diese Neugier nicht vergessen. Wahrscheinlich kann sie deshalb so anschaulich davon erzählen, wie es bei ihr war. Wie sie im Alter von elf Jahren ihre Gliedmaßen durch eine bakterielle Hirnhautentzündung verlor. Es begann mit Kopfschmerzen beim Fechttraining. Als die Mutter die Einblutungen in ihrem Gesicht sah, dachte diese erst, Bebe habe ohne Maske gekämpft; auch das hat Bebe Vio in "Rising Phoenix" erzählt. Dann begann ein Wettlauf mit dem Tod. Beide Unterarme und beide Beine mussten amputiert werden. Bebe Vio gewann.

Solche Einschnitte kann man eigentlich nicht erzählen wie eine normale schlechte Erfahrung. Oder doch? Bebe Vio hörte jedenfalls bald auf, sich selbst zu bemitleiden. Sie ließ die fehlenden Gliedmaßen von Orthopädietechnikern ersetzen; "ein bisschen wie ein Lego", hat sie einmal gesagt. Lernte, auf den Prothesen zu laufen. Und fing mit zwölf wieder mit dem Fechten an. "Ich brauche den Geruch meiner alten Fechthalle", sagte sie. Der Vater band ihr das Florett mit Tape an den Stumpf. Und heute ist sie eine Paralympics-Siegerin, die aus ihrer Lebenskunst mehr machen will als nur Medaillen.

Seit ihrem Goldgewinn in Rio im Finale gegen die Chinesin Jingjing Zhou hat man sie in vielen Rollen gesehen: als Fernseh-Moderatorin, Buchautorin, Motivationsrednerin, Model, Aktivistin für Prothesenhilfe, Anwältin für Impfschutz. 1,1 Millionen Follower hat sie auf Instagram, in Italien kam Ende 2019 eine Bebe-Vio-Barbie auf den Markt. Und natürlich blieb Bebe Vio als Sportlerin im Gespräch.

"Sie ist sehr, sehr schnell", sagt Silvi Tauber aus Berlin-Pankow, Linkshänderin wie Bebe Vio und am Mittwoch Viertelfinalistin im Säbel-Turnier der Spiele. "Dadurch, dass sie sich nicht festhält, kann sie mit dem Oberkörper sehr gut arbeiten." Silvi Tauber hat schon oft gegen Bebe Vio gefochten, auch mit dem Säbel, der eigentlich nicht gut zu Bebe Vios Behinderung passt. Beim Säbelfechten braucht man mehr Beweglichkeit im Handgelenk als mit der Stoßwaffe Florett, aber ein Handgelenk hat Bebe Vio ja nicht. "Da haben wir dann so gut wie alle gefilmt, um zu sehen, wie sie das hinkriegt", sagt Silvi Tauber. "Das, was wir gesehen haben, war dann ganz gut."

Bebe Vio mag das: den Leuten zeigen, dass etwas geht, obwohl sie dachten, dass es nicht geht. Fechten ohne Hände zum Beispiel. Für sie ist sowas kein Wunder, wenn man es wirklich will. Sie hat sich auch längst mit dem Rollstuhlfechten angefreundet, obwohl es ihr ganz am Anfang nicht sympathisch war. Heute mag sie die Konstellation mit den festgeschraubten Stühlen sogar mehr als das aufrechte Fechten. "Wenn du beim aufrechten Fechten Angst hast, kannst du ans Ende der Planche fliehen", sagt sie, "beim Rollstuhlfechten sitzt du fest. Da darfst du keine Angst haben." Für Angst hat Bebe Vio gerade natürlich auch gar keine Zeit.

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