In Lyon nennen sie ihn "Coco", das kommt von Corentin. Im Französischen ist ein "Coco" aber auch ein Schlaumeier, und das passt hier ganz gut. Corentin Tolisso, französischer Mittelfeldspieler und nunmehr vorerst teuerster Transfer in der Geschichte des FC Bayern, offenbar 41,5 Millionen Euro, zieht mit einer ganzen Bagage von Geschichten nach München - mit vielen schönen und kontroversen Geschichten, obwohl er noch jung ist, erst 22 Jahre. Aber die Bayern scheinen sich ihrer Sache sicher zu sein: Der Klub habe Tolisso "sehr ausführlich" scouten lassen, teilte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge mit. Dies sei ein Spieler, auf den sich der FC Bayern freuen dürfe. Fünf Jahre, bis 2022, gilt Tolissos Vertrag.
Tolisso war 13, als ihn Olympique Lyon in seine Nachwuchsakademie holte; beobachtet hatten sie ihn schon, als er neun war. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass er als Kind in einem Dorf in der Nähe Lyons spielte, in L'Arbresle, 6000 Einwohner. Aus diesem Dorf stammen einige prominente Figuren des großen "OL", die später nicht unwesentlich zum Aufstieg dieses Vereins beitrugen: Jean-Michel Aulas, der Präsident von Lyon - und Rémi Garde, der als Spieler und dann lange Zeit als Trainer ein Säulenheiliger des Klubs war. Sie waren beide da und wohl auch romantisch bewegt, als Tolisso seinen Einstand in der ersten Mannschaft gab. Aus L'Arbresle!
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Auf die Welt kam Tolisso etwas weiter westlich, und diese genaue geografische Verortung hat eine beträchtliche Bedeutung in der Vita und der Entwicklung des Spielers - im Ort Tarare nämlich, bekannt für seine Textilindustrie, für Vorhänge vor allem. Tarare liegt etwa gleich weit entfernt von Lyon wie von der kleineren Stadt Saint-Etienne und deren Fußballklub AS, Lyons Rivale in der Region und Gegner vieler epischer Derbys.
Ein Radiosender fragte "Coco" einmal, was denn wäre, wenn er sich unsterblich in eine junge Dame verlieben würde und dann herausfände, dass in ihrem Zimmer eine grüne Vereinsfahne von Saint-Etienne hängt: "Das wäre das sichere Ende der Liebe", sagte er, "das geht nicht, unmöglich." Alle im Studio lachten laut, nur Tolisso nicht. Seine Abneigung gegen "Les Verts", die Grünen, sollte sein Image prägen, nicht eben positiv.
Kaum hatte er im Ausbildungszentrum seines Leibvereins begonnen, drohte auch schon wieder das Aus: Er verletzte sich am Knie. Im Verein überlegten sie, ob sie ihn wieder ausmustern sollten. Lyon behielt ihn dann aber doch, überzeugt von seiner frühreifen Vista auf dem Feld, einem intuitiven Sinn für Spiel und Position, für Raum und Tiefe. Schon in jungen Jahren soll er eine bullige, recht autoritäre Art gehabt haben, sich auf dem Rasen Platz zu verschaffen, sich breitzumachen - eine dienliche Qualität im oftmals arg bevölkerten Zentrum des Spiels, wo sich Mittelfeldspieler mindestens im halben Dutzend auf den Füßen herumstehen und um Gestaltungsspielräume kämpfen.
In Lyon genoss er viele Freiheiten
Tolisso durchlief alle Jugendabteilungen der französischen Nationalmannschaften. Als Doppelbürger hätte er sich auch für Togo entscheiden können, das Herkunftsland seiner Eltern, doch das kam nie in Frage: "Ich leugne meine Wurzeln nicht", sagte er, "aber ich bin hier geboren, hier aufgewachsen." Sein Debüt in der Ligue 1 gab Tolisso mit 19, in der Nachspielzeit einer Partie gegen Nizza, in der Lyon bereits hoch führte. Dumm war nur, dass im Fernsehen gerade die Wiederholung eines Tores lief, als er eingewechselt wurde, und bis zum Abpfiff berührte er den Ball kein einziges Mal. Wenn er dereinst eine große Geschichte in diesem Sport schreiben sollte, fehlt leider das Bild von seinem Erstbeschreiten der großen Bühne.
Tolisso setzte sich schnell durch, wurde Stammspieler. Er profitierte auch davon, dass viele Konkurrenten im Verein verletzt waren. Zudem war er so vielseitig einsetzbar, dass er auch Unpässlichkeiten von Kollegen auf artfremden Positionen kompensierte. Er kann jede Rolle im Mittelfeld spielen, bevorzugt aber die defensive - die "8" trug er bei Lyon. Außenverteidiger kann er auch, wenn es sein muss. Stürmer geht ebenfalls ganz ordentlich.
Jedenfalls schießt er auffallend viele Tore, 14 in der vergangenen Saison - ein europäischer Spitzenwert für einen Mittelfeldspieler seiner Prägung. In der Regel bejubelt er sich immer gleich. Er presst dafür Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zusammen und spreizt sie ab von Ring- und kleinem Finger. Man kennt dieses stilisierte "V" aus "Star Trek", so begrüßten sich die Vulkanier. Aber ob Tolisso "Star Trek" schaut? Er erzählte mal, er habe seine Tore schon mit Freunden aus der Kindheit auf diese Art gefeiert, sie hätten die Geste auf einem Foto gesehen. Doch Spock?
Seine Polyvalenz trug ihm den Spitznamen "Couteau suisse" ein, das Schweizer Armeemesser führt ja Klingen für alles. In Lyon genoss Tolisso bei der Rolleninterpretation Freiheiten, die man in einem großen Klub wie dem FC Bayern normalerweise nicht erhält. Unklar ist, wie er sich in ein strenges Konzept einpassen kann, mit Hierarchien und Plänen. Und wo genau er bei den Münchnern stehen soll - neben, zwischen oder hinter den Zentrumsspielern Thiago und Arturo Vidal?
Die größte Autorität in der Mitte, der Spanier Xabi Alonso, ist ja gerade in Rente gegangen, ebenso wie Kapitän Philipp Lahm, die Flügelartisten Ribéry und Robben könnten in nicht allzu ferner Zukunft folgen. Die Bayern mischen daher den Kader gerade neu. Vom Alter her fügt sich Tolisso in die Reihe der bisherigen drei deutschen Erwerbungen Süle, Rudy (beide Hoffenheim) und Gnabry (Bremen): "Ich glaube, wir kriegen gute Qualität in den Kader mit diesen vier Spielern und dazu eben auch ein Stück Verjüngung", betonte Rummenigge. FCB-Flügelstürmer Douglas Costa soll sich indes laut italienischen Medien mit Juventus Turin über einen Wechsel einig sein.
"Coco" eilt der Ruf voraus, schwierig zu sein, ein bisschen Bad Boy - Le Parisien schreibt von einer "dunklen Seite". Auf dem Platz kann er seine Emotionen nur leidlich kontrollieren, besonders gegen die "Grünen": Im letzten Derby grätschte er dem ergrauten Fabien Lemoine von Saint-Etienne aus Frust so vorsätzlich mit Anlauf in die Beine, dass er sich danach gedrängt fühlte, mit Pathos zu Kreuze zu kriechen. Es sei ihm eine Sicherung durchgebrannt: "Das wird mir in meiner Karriere nie mehr passieren." Auch manche Scharmützel und Großmaulereien gingen durch die Presse. Tolisso gehörte intern dem "Clan der Lyonnais" an, der mit den weniger talentierten, bescheidener bezahlten Kollegen im Team nicht viel zu tun haben wollte.
Tolisso hätte schon 2016 weggehen können, der SSC Neapel war sehr interessiert. Doch der Sage nach hatte sein Berater "Gomorrha" gesehen, die harte TV-Serie über Neapels Mafia Camorra. So ließ man es lieber bleiben. Jetzt, nach seiner bisher besten Saison, war das Interesse plötzlich erdrückend: Manchester City, Juventus Turin, AC Mailand, Tottenham Hotspur, Barça - alle buhlten um ihn. Vorstand Rummenigge betont, auf dem Zettel von Bayern-Trainer Carlo Ancelotti sei Tolisso "der Wunschspieler für das Mittelfeld" gewesen. In jedem Fall ist er eine preisgünstige Variante eines anderen Ancelotti-Favoriten: von Marco Verratti, dem Italiener von Paris Saint-Germain. Dessen Verpflichtung würde Bayerns bisherige Vorstellungen davon, was ein Transfer maximal kosten darf, locker pulverisieren.
Willy Sagnol, Ancelottis künftiger Co-Trainer, soll dazu beigetragen haben, dass sich Tolisso so schnell und klar für die Bayern entschieden hat, schreibt L' Équipe. Die beiden kennen sich aus Zeiten, als Sagnol Frankreichs Jugendteams trainierte. Tolisso, der 2018 unbedingt mit Frankreich zur WM will, rechnet sich aus, dass er nun bei den "ganz, ganz großen Spielen" dabei sein wird, in der Champions League vor allem: "Ich hatte von Anfang an große Lust auf Bayern", sagte er dem Klub-TV.