Vielleicht liegt es ja an diesem auffällig aufrechten, schier steifen Gang mit durchgedrücktem Rücken, dass man ihn in Spanien auch "Pavo real" nennt, Pfau also: Der Fußballer Thiago Alcántara do Nascimento, bekannt als Thiago, 22 Jahre alt, ist zwar eher klein gewachsen, doch er streckt seine 1,72 Meter so lang, dass es beim Zuschauer leicht den Eindruck erweckt, er stehe über dem Spielgeschehen. Mit Vista eben, mit Blick für Gestaltung, mit Eleganz auch.
Und das hilft ihm in seiner Rolle im offensiven Mittelfeld. Mit Pfau ist aber auch sein Hang gemeint, die Effizienz auch schon mal der Ästhetik zu opfern, die Arbeit der trickreichen Kunst, das Kollektiv seiner zuweilen spektakulären Individualität. Keiner zweifelt am Talent Thiagos, am wenigsten Thiago selber. Gefolgt von Pep Guardiola, seinem Ziehvater beim FC Barcelona, der ihn nun mit Macht nach München zum FC Bayern holte: "Ich will Thiago oder nix!"
Ultimativer geht es nicht. Thiagos Personalie ist etwas mehr als ein Transfer, sie ist ein Politikum - zumindest in Spanien. Als Guardiola Barça verließ, seinen Lebensverein, versprach er allenthalben, dass er sich nie beim Kader Barcelonas bedienen würde, dass das mit dem Herzen nicht vereinbar wäre. Mittlerweile ist dieses Herz etwas gebrochen, das Vertrauen zur Direktion auch, die losen Abmachungen sowieso. In Thiago warb er ausgerechnet jenen Spieler aus dem Nachwuchs ab, der von allen am meisten Star-Appeal hat, einen, für den sich auch Real Madrid, der FC Chelsea und Manchester United interessiert hatten.
"1:0 für Pep", schrieb eine Zeitung. Im Falle Thiagos sei für Barça alles schief gelaufen, bis hin zur Transfersumme: 25 Millionen Euro machen ihn zwar zum teuersten Absolventen der viel gerühmten "Masía", der Fußballakademie der Katalanen. Doch Real Madrid bezahlte in den letzten Wochen mehr Geld für die Verpflichtungen der spanischen Talente Isco und Illarramendi, die in der U21 unter der Regie von Spielführer Thiago agieren. Der Pfau, ein Schnäppchen?
Thiago Alcántara entstammt einer brasilianischen Sportlerfamilie. Sein Vater, Mazinho, wurde 1994 Fußballweltmeister mit Brasilien. Seine Mutter Valéria war Volleyballerin. Zur Welt kam er im süditalienischen Lecce, wo sein Vater damals gerade ein kurzes Gastspiel gab, bevor er seine Karriere dann in verschiedenen Vereinen der Primera División fortsetzte. Thiago wuchs in Spanien auf.
Als er sich im Jugendalter für eine Nationalmannschaft entscheiden musste, wählte er die spanische: "Ich verdanke diesem Land alles", sagte er, "hier habe ich auch lesen gelernt." Sein jüngerer Bruder Rafael, der sich als Rafinha einen Namen zu machen versucht und unlängst zu Celta Vigo wechselte, entschied sich für Brasiliens Auswahl. Die Fußballjugend verbrachten beide Söhne Mazinhos bei Barça, heftig umworben von den Spähern anderer Vereine.
Thiago stieg schnell auf. Seine Ballfertigkeit war überdurchschnittlich gut, sein Spielverständnis auch. Er war gerne der Chef und spielte ungerne Sicherheitspässchen. Er riskierte lieber "la jugada": den Hackentrick, den Sombrero, das hohe Zuspiel in die Spitze - und verhaute so manchen Ball. Das passte zwar nur leidlich zum Stil Barças, zu diesem perfektionistischen und geduldigen Kombinationsspiel in der Horizontalen, das sie schon im Nachwuchs in stundenlangen Sessionen einstudieren.
Doch er hatte das Glück, einen Mentor zu haben, der auch die Pfiffe vom puristischen Publikum gegen seinen Schützling ignorierte: Guardiola entdeckte Thiago zu seiner Zeit als Coach des zweiten Teams, von Barça B, und zog ihn nach seiner Promotion bald nach. Im letzten Jahr unter Pep durfte der Techniker auch bei den ganz wichtigen Spielen mitmachen, bei den Clásicos und in der Champions League, manchmal sogar als Stammspieler. Der Jungstar mäßigte seine brasilianische Seite, stärkte stattdessen seine spanische - und spielte auch mal quer.
Plötzlich hieß es, Thiago könne auch "den Xavi". Er galt als möglicher Nachfolger von Xavi Hernández, des Gehirns des FC Barcelona. Nur geduldig müsse er sein, ein paar Jahre wenigstens. Als Guardiola weg war, sank Thiagos Kurs. Für Trainer Tito Vilanova waren die Rollen im reich bestückten Mittelfeld recht fix vergeben. Meist kam Thiago nur noch zu Teileinsätzen, oft in zweitklassigen Begegnungen.
Das steigerte seine Lust am Weggang und senkte gleichzeitig seinen Preis: In einem Passus seines Vertrags hieß es, dass seine Freikaufklausel für den Fall, dass er weniger als 60 Prozent der möglichen Spielminuten zum Einsatz komme, drastisch gesenkt würde - von 90 auf 18 Millionen Euro.
Verhandelt hatte diesen Passus sein Manager Pere Guardiola, der Bruder von Pep. Von den 25 Millionen, die nun inklusive Steuern fällig werden, trägt der FC Bayern 20 Millionen. Der Rest ergibt sich aus einem Freundschaftsspiel, zudem verzichtet Thiago angeblich auf "persönliche Gehaltszahlungen".
"Die Besten sind die, die hier bleiben", schreibt die Sportzeitung Mundo Deportivo aus Barcelona jetzt mit Trotz und Wehmut. Bei der jüngsten U21-EM wurde Thiago zum besten Spieler des Turniers gewählt. Nun träumt er vom ganz großen Wettbewerb, von der WM in Brasilien 2014, mit Spanien. Chancen auf ein Aufgebot hat er wohl nur, wenn er dank Pep bei Bayern oft spielt. Sehr oft sogar. Und gut.