Joshua Kimmich:Der Alles-wird-gut-Spieler

MOSCOW, RUSSIA - OCTOBER 27: Joshua Kimmich scores for FC Bayern Muenchen during the UEFA Champions League Group A stag

Da kann man nur staunend stehenbleiben: Joshua Kimmich zeigt, wie man ein schwächeres Spiel mit einem stangengeraden Schuss ins Netz bereichert.

(Foto: MB Media Solutions/Imago)

Selbst wenn es wie in Moskau mal knirscht und knarzt beim FC Bayern: Auf Joshua Kimmich ist Verlass. Die Elf dreht sich um ihn - ob David Alaba bleibt, ist dagegen weiter offen.

Von Christof Kneer

In der Nachspielzeit hatte Joshua Kimmich Lust zu raufen. Auge in Auge stand er dem Stürmer Zé Luis gegenüber, und wenn Kimmich so guckt, wie er in diesem Moment guckte, dann vergisst man leicht, dass er in allen Nachschlagewerken mit einer Größe von 1,76 m geführt wird. Kimmich ist dann eine Drohung. Recht entschlossen sprach er auf Zé Luis ein, in welcher Sprache weiß man nicht, portugiesisch, kreolisch, Kimmich kann ja angeblich alles. Kurz darauf war das Spiel vorbei, die Bayern hatten bei Lokomotive Moskau 2:1 gewonnen, und Kimmich sah wieder ganz friedlich aus. Und dass er angeblich nur 1,76 m misst: Ja, das konnte man sich jetzt wieder vorstellen.

Ein paar Minuten später gab Kimmich ein Fernsehinterview, er war höflich und guter Laune, trotz des anstrengenden Spiels, das er gerade hinter sich gebracht hatte. Das ist ja das Gute beim FC Bayern im Moment, man hat nach Spielen fast immer gute Laune, auch Kimmich, weil er ja weiß: Selbst wenn's im Spiel mal knirscht und knarzt, auf einen kann er sich im Zweifel immer verlassen. Auf sich selbst.

Wurde schon mal festgestellt, dass Kimmich, 25, auf dem Weg ist, ein klassischer bayerischer Führungsspieler zu werden? Ja, das wurde wohl schon mal festgestellt. Aber wenn man Champions-League-Spiele wie jenes des FC Bayern bei Lokomotive Moskau sieht, dann kann man die These allmählich nicht mehr halten. Kimmich ist nicht mehr auf dem Weg zum Führungsspieler. Er ist angekommen.

Tore außerhalb des Strafraums sind nicht Kimmichs Stärke? Dann trainiert er das halt!

Es gibt im Fußball Torjäger und Vorlagensammler, aber Kimmich ist, obwohl er Tore und Vorlagen kann, etwas ganz anderes: Er ist ein Schlüsselszenenjäger- und -sammler. Er beschließt im Laufe eines Spiels irgendwann, dass jetzt mal Zeit für eine Schlüsselszene wäre, und dann sucht er sich für sein Vorhaben eine Szene aus, die von ihrem Glück noch gar nichts weiß. Das gilt übrigens auch für seine unbescholtenen Mitspieler, denen er, ohne ihnen Bescheid zu sagen, Schlüsselszenen-Assistentenrollen aufdrängt. Ob Javi Martínez in der 79. Minute dieses Spiels vorhatte, die Vorlage zum Siegtor zu geben? Eher nicht.

Martínez spielte tief im Mittelfeld einen Pass zu Corentin Tolisso, der passte zu Martínez zurück, und dann sah Martínez, dass da vorne dieser Kimmich stand. Er hat ihn dann direkt angespielt, ein guter, kluger Pass war das, aber es war jetzt nicht die überraschende zündende Idee, die ein Spiel von einer Sekunde auf die andere verändert. Es war kein tödlicher Pass. Tödlich machte ihn erst Joshua Kimmich.

Kimmich stoppte den Ball mit dem Rücken zum Tor, der Ball prallte auf den Rasen und stieg leicht an, Kimmich drehte sich und schoss volley, von außerhalb des Strafraums. Zwar besitzt Kimmich angeblich gar keinen so tollen Schuss, aber mal unter uns: Kann man auf so was Rücksicht nehmen, wenn es darum geht, ein Spiel zu entscheiden? Kann man natürlich nicht.

Tore von außerhalb des Strafraums zu erzielen, "das war in meiner Jugend nicht so meine Stärke, weil mir da die Schusskraft fehlte", erzählte Kimmich nach dem Spiel, "in letzter Zeit klappt das aber ganz gut. Solche Dinger habe ich jetzt das ein oder andere Mal trainiert".

Das kann der Fußballgott ruhig so machen, wenn er will: ihm einfach weniger Schusskraft mit auf den Weg geben. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass er, Joshua Kimmich, das dann auch akzeptiert.

Offenbar sind die Bayern noch immer weit entfernt von einer Einigung mit David Alaba

Vielleicht hatte Kimmich auch deshalb später Lust zu raufen. Den Sieg, den er da herausgeschossen hatte, wollte er auf gar keinen Fall wieder hergeben. Und bestimmt will er auch nie wieder eine Chance vergeben wie in der 54. Minute, als er den Ball aus vier Metern nicht über die Linie brachte. "Peinlich" sei das gewesen, sagte Kimmich später. Die nächste Chance aus vier Metern, man ahnt es, wird er nutzen.

"Einen Arbeitssieg" diagnostizierte Trainer Hansi Flick später gnädig, er wollte mal nicht so sein. Leon Goretzka hatte die Bayern dank eines einstudierten Spielmusters (Tolisso verlagert aus dem Zentrum auf den Flügel, Pavard flankt) früh in Führung geköpft (13.), aber es brauchte nicht erst den Ausgleich durch Mirantschuk (70.), um ein paar Münchner Schusseligkeiten offenzulegen. Natürlich wissen die Bayern, wie man hohe Bälle verteidigt, aber an diesem Abend fehlte ihnen ein wenig die Spannkraft in Herz und Hirn, um das, was man kann, auch auszuführen. An solchen Abenden braucht man Jungs wie Kimmich ganz besonders, Kimmich ist ein Alles-wird-gut-Spieler, dessen bloße Anwesenheit den Kollegen signalisiert: Fürchtet euch nicht. Ich mach' das schon.

Noch mal kurz zusammengefasst: Im Mai schießt Kimmich mit keckem Lupfer das Siegtor in Dortmund, das die Meisterschaft vorentscheidet; im August sägt er jene Flanke zu Kingsley Coman hinüber, die dieser zum Siegtor im Champions-League-Finale nutzt; im September entscheidet er mit einem sagenhaften Bauchklatscher-Tor den Supercup gegen Dortmund. Und nun also das Tor in Moskau, das den Bayern vor den kräftezehrenden Auswärtsspielen in Köln, Salzburg und Dortmund ein paar kräftezehrende Debatten erspart.

Kimmich ist der Spieler, um den sich dieses Team dreht, das ermöglicht es den Bayern, etwas entspannter auf den Rest der Elf zu blicken. Offenbar sind sie ja noch immer weit entfernt von einer Einigung mit David Alaba, dessen Vertrag im Juni ausläuft. Laut Sport-Bild soll eine weitere Verhandlungsrunde ergebnislos verlaufen sein, obwohl die Bayern inzwischen angeblich einen Fünf- statt wie bisher einen Vier-Jahresvertrag bieten; finanziell sollen die Parteien aber immer noch sehr uneinig sein.

Am liebsten, so hört man, würde Alaba immer noch im zentralen Mittelfeld spielen, auf der sogenannten Sechserposition. Das Problem: Da spielt Joshua Kimmich.

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