Heiko Vogel kauerte hinter zwei Metallkisten, das Haar vom Schweiß fest an den Kopf geklebt, in der Hand eine Semmel, belegt mit Schinken und Gürkchen. Der kauernde Vogel stopfte die Semmel in sich hinein, weg war das erste Gürkchen, weg war das zweite Gürkchen, weg war der Schinken. Weg war die Semmel. Heiko Vogel war ein hungriger Semmelstopfer. Und ein wütender.
Vogels Hunger und Vogels Wut waren in den zwei Stunden zuvor stetig angewachsen, in zwei Stunden, in denen nichts so war, wie er, Vogel, sich das vorgestellt hatte. Und auch nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, dachte Vogel überhaupt nicht daran, seine Wut zu verbergen.
Im ersten Heimspiel in der neuen Saison in der Fußball-Regionalliga Bayern hatte Vogels Mannschaft, der FC Bayern München II, kein Gegentor kassiert und auch kein eigenes Tor geschossen. Doch daran störte sich Vogel nicht. Er störte sich vielmehr daran, wie der Sonntagmittag im Stadion an der Grünwalder Straße verlaufen war. Und besonders störte er sich daran, weil der Gegner der TSV 1860 München II war. Weil es also das erste Spiel war, in dem sich nahezu die gesamte Landeshauptstadt dafür interessierte, wie Vogel als neuer Trainer die Mannschaft des FC Bayern II aufstellte. 11 358 Zuschauer waren zum Derby der Amateure gekommen.
Und dann wirkte seine Mannschaft wie eine aufgeregte Gruppe Erstklässler vor dem Raubtiergehege.
"Die erste Halbzeit geht wohl auf meine Kappe", sagte Vogel, er sagte es mit der bissigen Ironie desjenigen, der sich seiner sauberen Kappe sicher ist. "So wie wir gespielt haben, habe ich wohl das Falsche gesagt." Wenig später präzisierte er: "Der Auftritt in der ersten Halbzeit war unterirdisch. Da hat die Mentalität gefehlt." Es war eine harte Kritik, ganz in der Intensität, die den Mittag geprägt hatte.
Wie zuletzt bei den Münchner Amateure-Derbys üblich bildete die Polizei rund um das Stadion einen dichten Ring aus Einsatzwagen und dick gepanzerten Beamten. Die beiden Fanlager begrüßten sich vor dem Anpfiff mit verbalen Gemeinheiten, diese verstummten kurz, als das gesamte Stadionpublikum mit einem einminütigen Applaus dem am Samstag verstorbenen ehemaligen Jugendtrainer Stephan Beckenbauer, der für beide Klubs gespielt hatte, gedachte. Die Friedlichkeit hielt nicht lange. Kaum hatte Schiedsrichter Peter Sippel die Partie angepfiffen, zündeten Zuschauer im Block des FC Bayern Pyrotechnik, Sippel musste für mehrere Minuten unterbrechen. Nachdem er das Spiel wieder freigegeben hatte, begannen jene Minuten, über die sich Heiko Vogel noch zwei Stunden später ärgerte.
Seine Mannschaft, für die aus dem Profikader allein Gianluca Gaudino in der Startelf stand, versuchte das Spiel vom eigenen Strafraum aus mit kurzen Pässen aufzubauen - allerdings scheiterte diese Strategie schon ziemlich genau am eigenen Strafraum. Die Spieler des TSV 1860 attackierten wild und frühzeitig, geschickt verschoben sie gemeinsam, und immer wieder gelang es ihnen, einen der Pässe des Gastgebers abzufangen. "Es gibt bei uns kein Kurzpassgebot, da haben wir uns taktisch ungeschickt angestellt", schimpfte Vogel, "wir waren maximal gehemmt."
Der TSV 1860 erwischte mit seinen Balleroberungen den FC Bayern immer wieder in ungeordneter Aufstellung und erspielte sich so viele Chancen. Nicolas Andermatt schoss knapp am Tor vorbei (3. Spielminute), Nico Karger scheiterte an FCB-II-Torwart Andreas Rößl (9.), Felix Weber vergab aus aussichtsreicher Position (16.), genauso wie erneut Andermatt (17.). "Meine Spieler waren froh, dass sie mal auf eine Mannschaft getroffen sind, die auch versucht, Fußball zu spielen. Da können wir aggressiver zu Werke gehen", sagte Daniel Bierofka, der ehemalige Profi und jetzige Trainer des TSV 1860 II. "Was mich ärgert: Dass wir die Torchancen teilweise leichtfertig haben liegen lassen." Er klang allerdings deutlich weniger verdrießlich als Vogel.
Der Charakter des Spiels änderte sich erst in der 40. Minute. Zunächst traf FCB-II-Offensivspieler Fabian Benko aus knapp 25 Metern die Latte. Dann stoppte Felix Pohl den direkten Gegenzug der Löwen per Notbremse an Nicholas Helmbrecht. Rote Karte - und ein "Weckruf" für den FCB II, so sah das zumindest Vogel.
Kurz nach der Pause touchierte Andermatt mit einem Schuss zwar noch die Latte (47.), danach aber bekam der FC Bayern II die Partie besser unter Kontrolle. Die Mannschaft verzichtete nun auf die kurzen Pässe. Stattdessen suchte sie sofort mit langen Bällen Stürmer Karl-Heinz Lappe. Gute Möglichkeiten erspielte sich das Team weiter nicht, aber der Ball war nicht mehr so oft am eigenen Strafraum. "Das Positive ist, dass wir die Null hinten haben stehen lassen", sagte Vogel. Er verschwieg dabei allerdings, dass allein der eingewechselte 1860-Angreifer Florian Pieper in der letzten Viertelstunde drei gute Torchancen hatte.
Vogel hatte sich nach dem zweiten Unentschieden im zweiten Saisonspiel den Zorn weggeredet. Dann verließ er das Stadion. Der Himmel, der den ganzen Mittag mit grauen Wolken behangen war, leuchtete jetzt Weiß-Blau.