Süddeutsche Zeitung

Bayern gewinnt beim BVB:Ein Geniestreich reicht

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Dank eines brillanten Kimmich-Hebers und mit ein bisschen Elfmeter-Glück gewinnen die Bayern in Dortmund - und steuern mit sieben Punkten Vorsprung auf die Geistermeisterschaft zu.

Von Christof Kneer, München/Dortmund

Da war es wieder, endlich, wie lange hatte man das nicht mehr gehört! "Druck" sagte Oliver Kahn, wie früher, als er noch wie ein Höllenhund sein Tor bewachte, "Druck" mit hellem badischen "u". In voller Schönheit ging der Satz so: "Der ganz große Druck liegt beim BVB", sagte Kahn in seiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied des FC Bayern vor dem deutschen Klassiker in Dortmund. Schön war auch dieser Satz: "Meine Lieblingsschlagzeile nach dem Spiel wäre: 'Die Meisterschaft ist vorentschieden.'" Anzumerken wäre, dass es sprachlich betrachtet vermutlich griffigere Schlagzeilen gäbe, aber man wusste ja, was Kahn meint: Mit einem Sieg wäre der FC Bayern den Dortmundern um sieben Punkte enteilt - aber kaum hatte Kahn diesen Satz gesagt, musste Bayerns Verteidiger Jérôme Boateng schon auf der Linie retten. In der ersten Spielminute.

Der BVB war steil in dieses Spitzenspiel gestartet, kurz nach dem Anpfiff spielte BVB-Stürmer Erling Haaland schon direkt nach vorne, Manuel Neuer musste gleich aus seinem Tor stürzen, um vor Thorgan Hazard zu retten, den Abpraller brachte Haaland aufs Tor - in dem dann aber Boateng stand. Es war der knackige Beginn eines Spiels, in dem die Bayern den BVB erst mal machen ließen, bevor sie beschlossen, ihrerseits die Kompetenz eines Tabellenführers ins Spiel einzubringen. Am Ende gelang es seriösen Bayern, sich dank eines verdienten 1:0-Sieges den von Kahn erwünschten Sieben-Punkte-Vorsprung zu erarbeiten. Sehr greifbar sind nun zwei Titel auf einmal: die achte Meisterschaft in Serie und die erste Geistermeisterschaft.

"Jetzt entscheiden nur noch die Bayern, was passiert", sagte BVB-Kapitän Mats Hummels nach dem Spiel bei Sky ziemlich frustriert. Bayern-Torwart Manuel Neuer nannte den Sieg, erkennbar weniger frustriert, "ein ganz wichtiges Zeichen".

Eine verklausulierte Rücktrittsankündigung von Favre?

In Dortmund könnte nun jene Diskussion an Fahrt aufnehmen, die es intern und extern schon eine Weile gibt: jene, ob Trainer Luciens Favre bei aller Versiertheit auch wuchtig genug ist, um einen begabten Kader zum Titel zu trimmen. Favres Reaktion auf eine solche Frage ließ nach Schlusspfiff aufhorchen: "Das sagt man hier seit Monaten", sagte er mit gequältem Lächeln, "ich lese nicht die Zeitung, aber ich weiß, wie es geht. Ich werde darüber in ein paar Wochen sprechen." Eine verklausulierte Rücktrittsankündigung?

Was den Rivalen aus München auszeichnet, zeigt derweil die vergleichende Lektüre von zwei Aufstellungen. Trainer Hansi Flick hatte seine Startelf in Dortmund auf einer Position verändert, und zwar nicht nur im Vergleich zum 5:2 gegen Frankfurt (Serge Gnabry spielte für Ivan Perisic). Vor allem war es mit einer Ausnahme auch die gleiche Elf wie im Hinspiel im November, bei Flicks erstem Spiel als Chef. Damals spielte Javi Martínez statt Boateng, ansonsten lief damals dieselbe Zehn auf wie jetzt, ein halbes Jahr und eine Corona-Pause später, im unheimlich leeren Stadion des BVB. Ein Bayern-Trainer soll rotieren? Kann schon sein, dass er das soll. Flick macht das aber nicht, oder zumindest: kaum. Als er die Nachfolge von Niko Kovac antrat, hat er einer verunsicherten Elf Sicherheit gegeben, in dem er dieselben Spieler mit demselben Auftrag an dieselbe Stelle des Platzes stellte.

Tatsächlich wirkt das Spiel der Münchner seitdem sehr stabil, aber in Dortmund sah man den Münchnern in jeder Spielsekunde an, dass sie wussten, welch hochwertiger Gegner ihnen da gegenüberstand. Der BVB ist Bayerns neue Champions League, die Dortmunder sind die ultimative Herausforderung für diese an historischen Maßstäben gemessen doch recht junge Bayern-Elf. Vorige Woche hatte Flick seine manchmal zur Nonchalance neigenden Schützlingen demonstrativ auf den Ernst der Lage hingewiesen, indem er ein Training abbrach, das ihm nicht gefallen hatte. Eine Härte, die seine Spieler durchaus überraschte - in Dortmund starteten die Bayern mit erheblicher Seriosität, was in selbem Maße für den BVB galt. Eines war beiden Mannschaften von Beginn an bewusst: dass jeder Fehler der eine entscheidende Fehler zu viel sein kann.

Am Ende brauchten die Bayern gar keinen Dortmunder Fehler für ihre Führung, es reichte, dass sie den BVB kurz überforderten. Erst ein Ballgewinn per Gegenpressing, ein paar schnelle Kombinationen durchs Zentrum, schon kam Joshua Kimmich an den Ball, und Julian Brandt ließ ihn gewähren - was Kimmich die Zeit gab, den Kopf zu heben und den BVB-Torwart Bürki auf vorgeschobenem Horchposten zu ertappen. Kimmichs Heber flog über den Keeper ins Tor (43.) - ein Geniestreich, der dem Tabellenführer eine inzwischen verdiente Führung einbrachte. Die Bayern hatten sich dem Dortmunder Tor zuvor ja immer mehr angenähert, ohne dabei die Deckung zu vernachlässigen - die Dortmunder dagegen hatten die Deckung nicht vernachlässigt, ohne sich allerdings dem Münchner Tor erkennbar anzunähern.

"Brutal wichtig" nannte Kimmich später sein Tor, "ich habe mich umgesehen, ob auch wirklich jeder verstanden hat, wie wichtig das war." Und Thomas Müller verriet, Kimmich habe "so was am Morgen schon angedeutet". So einen Heber?

Diese Mentalität hätte der BVB auch gut gebrauchen können, aber der Mentalitätsspezialist Emre Can kam erst nach der Pause. "Wenn wir noch um die Meisterschaft mitspielen wollen, sollten wir gewinnen", hatte BVB-Sportchef Michael Zorc vor der Partie gesagt, und seine Spieler hielten das mit dem Gewinnen auch für eine gute Idee, aber trotz aller Bemühungen kamen sie auch in der zweiten Halbzeit zu selten durch. Eine Szene aus der 58. Minute werden sich die Dortmunder aber sicher noch ein paarmal anschauen: Haalands Schuss prallte dem am Boden liegenden Boateng an den (nicht angelegten) Oberarm. Man hat in solchen Momenten schon sehr viele Videoschiedsrichter ins Spiel hineinfunken gehört - an diesem Abend blieb der VAR erstaunlicherweise still.

Er wünsche sich, dass "hinten die Null" stehe, hatte Flick zuletzt gesagt, den Wunsch unterstrich er, indem er die defensiven Lucas Hernández und Javi Martínez einwechselte. Favre hingegen überraschte die Fachwelt mit der Einwechslung von Mario Götze, der in seinem früheren Leben vielleicht noch ein paar Wege durchs Nadelöhr gefunden hätte. In seinem aktuellen Leben aber blieb auch er erfolglos, und wenn man Oliver Kahn wäre, könnte man meinen, die Meisterschaft sei vorentschieden.

"Wir haben ein gutes Polster auf Dortmund", sagte der Siegtorschütze Kimmich am Ende noch, für den BVB werde es jetzt "mental schwierig, da dran zu bleiben". Was für ein Druck!

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SZ vom 27.05.2020
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