Bayer Leverkusen:Sehnsucht nach einer Trophäe

Bayer Leverkusen: Pflichtsieg bei einem Viertligisten? Der Leverkusener Massenjubel nach dem Einzug ins Pokalfinale legte diesen Schluss nicht nahe.

Pflichtsieg bei einem Viertligisten? Der Leverkusener Massenjubel nach dem Einzug ins Pokalfinale legte diesen Schluss nicht nahe.

(Foto: Ronald Wittek/AFP)

Das chronisch titellose Leverkusen wähnt sich an der Schwelle zu Historischem.

Von Philpp Selldorf, Leverkusen

Über den Trophäensaal der Bayer 04 Leverkusen Fußball GmbH ist schon oft gespottet worden. Der Spott beginnt damit, dass es diesen Saal gar nicht gibt, weil der Verein nicht viel besitzt, das er vorzuweisen hätte. Leverkusen war zwar schon ein paarmal Meister, aber das trug sich vor bald einem halben Jahrhundert in der Verbandsliga Mittelrhein und 1979 in der zweiten Liga zu. Es gibt am Stammsitz an der Bismarckstraße auch keine Bayer-04-"Erlebniswelt" oder ein Bayer-04-Museum, obwohl man sich dafür schon ein paar hübsche Exponate vorstellen könnte: Eine Auswahl von Reiner Calmunds legendären Geldkoffern etwa, ein Büschel Haare von Christoph Daum oder ein Abbild jener Meisterschale, die vor zwanzig Jahren auf beklagenswerte Weise in Unterhaching abhandenkam.

Vorerst begnügt sich der Verein damit, seine Pokale zwanglos in der Geschäftsstelle auszustellen: den 1988 gegen Espanyol Barcelona gewonnenen Uefa-Cup und den 1993 gegen Herthas Amateure errungenen DFB-Pokal. Auf eine stolze Präsentation der vielen knapp oder fahrlässig verpassten Titelgewinne verzichtet der Verein ausdrücklich. Vom 2010 patentamtlich geschützten Titel "Vizekusen" hat man sich längst wieder verabschiedet - allen voran Sportchef Rudi Völler hatte die zu Marketing- und Profilierungszwecken ersonnene Idee als "Schwachsinn" qualifiziert.

Nun sehen sich die Leverkusener nach dem Einzug ins Pokalfinale wieder an der Schwelle der Geschichtsschreibung angelangt, der von der Bertelsmann AG zugewanderte Geschäftsführer Fernando Carro spricht von einer "historischen Chance". Damit übertreibt er keineswegs. Anders als die Frankfurter Eintracht, die durch den Pokalsieg vor zwei Jahren einen großen Entwicklungsschub erhielt, braucht Bayer den Erfolg nicht, um zu wachsen oder um Geld zu verdienen, sondern um das Selbstvertrauen und Selbstverständnis als Sportverein zu stärken.

Relativ besehen, steht Leverkusen sehr gut da, wenn man zum Beispiel die Liga-Platzierungen und -punkte der vergangenen zehn Jahre zusammenrechnet. Dann findet sich der Klub hinter den Bayern und Dortmundern auf Rang drei. Das ist sicherlich ein Erfolg, aber in letzter Konsequenz bloß eine statistische Bilanz. Man möchte endlich etwas gewinnen und dafür auf den Titelseiten gefeiert werden, Rudi Völler würde womöglich sogar seine Frisur für eine Bierdusche zur Verfügung stellen.

In Saarbrücken fiel das Gewinnen relativ leicht, der FCS war kein bedrohlicher Gegner. Trainer Peter Bosz war vor dem Treffen mit dem Regionalligisten gefragt worden, wie er sein Team vor der Überheblichkeit bewahren wolle. Er erwiderte, dass es genügen werde, die Spieler mit der Aussicht aufs Finale zu konfrontieren. Die Mannschaft ließ sich davon inspirieren, der 3:0-Sieg stand nach frühen Treffern von Moussa Diaby und Lucas Álario nie in Frage, aber die Profis haben ihn anschließend trotzdem gefeiert, als hätten sie ein wildes Spiel nach Verlängerung und Elfmeterschießen für sich entschieden. Sie zogen sich sonderbedruckte T-Shirts über und tanzten wie Indianer ums Lagerfeuer - ein schöner Kontrast zu den Bayern, die sich tags darauf eher zu schämen schienen für ihr mühseliges 2:1 gegen Frankfurt.

Natürlich sind die Bayern der Favorit, doch sie haben auch Grund, ihren Gegner ein wenig unheimlich zu finden. Vor einer Woche hatten die Münchner keine Not, die Leverkusener auf deren Grund und Boden 4:2 zu besiegen. Sie trafen allerdings eine Elf an, die nicht auf ihrer Höhe war, beileibe nicht nur deshalb, weil Ausnahmespieler Kai Havertz verletzt fehlte. Nicht wenige Kenner vertraten schon vor der Saison die Ansicht, dass Bayer seit Beginn des Jahrtausends keinen so guten Kader hatte wie diesmal, und dass auch der angriffslustige Trainer Bosz sehr gut dazu passte.

Wie man das von dieser Adresse kennt, widerlegte der Bayer-Kader die Vorhersage prompt mit wechsel- und zweifelhaften Auftritten. In Erwartung der mehr oder weniger planbaren Zigmillionen-Einnahme für Havertz erweiterte das Management im Winter noch mal den Personalbestand, für knapp 40 Millionen Euro kamen der Argentinier Palacios und der burkinische Verteidiger Tapsoba hinzu - sowie aus Köln ein 16-Jähriger namens Wirtz, der zwar bloß 250 000 Euro kostete (plus, wie in Köln erzählt wird, einen Bonus für die Familie), aber schon jetzt von beachtlichem Wert für das Leverkusener Team ist. Während Tapsoba auf Anhieb einen Posten in der Innenverteidigung bezog, so dass Jonathan Tah erst mal auf die Bank umziehen musste, hat dank der Förderung von Bosz auch der inzwischen 17-jährige Wirtz angefangen, seinen Ruf als Supertalent zu bestätigen. Bosz redet nicht in Superlativen über Wirtz, er stellt ihn einfach immer wieder auf und schafft damit Tatsachen.

Seit Anfang 2019 arbeitet Bosz in Leverkusen, lang genug, um festzustellen, dass die Beziehung zwischen Trainer und Klub auf erstaunliche Weise frei ist von störenden Zwischentönen. Es könne, heißt es, eine "Ära Bosz" geben. Der Pokalsieg würde es vorerst auch tun.

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