Basketball:Staatenloser Staatsfeind

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Enes Kanter von den New York Knicks ist für seine Erdoğan-Kritik bekannt. Nun verzichtet er auf die Europa-Reise der NBA: Er habe Angst um sein Leben.

Von Jonas Beckenkamp, New York / München

Eigentlich ist Enes Kanter ein furchtloser Kerl. Auf dem Parkett geht der Basketballer mit türkischen Wurzeln keinem Konflikt aus dem Weg, das durfte 2017 auch LeBron James erfahren, mit dem er sich Kopf an Kopf gegenüberstand, bis die Kollegen die Rangelei unter Riesen beendeten. Kanters Revier ist die sogenannte Zone, in der Nähe des Korbes, wo selbst Muskeltypen wie er um die Positionen ringen müssen. Kanter hat sich als Center einen Namen gemacht, er packt gerne zu, pflückt Bälle aus der Luft, und er nutzt seine 2,11 Meter Körperlänge auf beachtliche Weise: Bei den New York Knicks kommt er aktuell auf fast 15 Punkte und knapp elf Rebounds pro Spiel.

Doch ausgerechnet dieser Modellathlet hat jetzt nach eigenen Aussagen Todesangst. Kanter, 26, ist nicht nur Basketballer, er gilt auch als einer der prominentesten Kritiker des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Seit mehreren Jahren positioniert sich der in Zürich geborene Sportler gegen Erdoğan, er nannte ihn einen "Diktator" und den "Hitler unserer Zeit". Seine Haltung hat Kanter berühmt gemacht - und sie erschwert ihm nun die Ausübung seines Jobs. Wenn seine Mannschaft am 17. Januar ein Gastspiel der NBA in London bestreitet, kommt Kanter nicht mit. Er hat dem Klub mitgeteilt, dass er zu Hause bleiben möchte. In den USA, wo er sich sicherer fühle.

Auf dem Platz scheut er kein Duell: NBA-Profi Enes Kanter (mitte) sorgt sich im alltäglichen Leben. (Foto: Mark J. Terrill/dpa)

Kanter befürchtet, dass eine Reise nach Europa das türkische Regime auf den Plan rufen könnte - dass man ihn in London festsetzen könnte. Das mag ein wenig nach James Bond und Politthriller à la John Le Carré klingen, aber wer an die vielen in der Türkei inhaftierten Erdoğan-Gegner denkt, kann zumindest nachvollziehen, dass Kanters Befürchtungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sein müssen.

Ein Trip nach England bringe ihn in Lebensgefahr, sagte der Centerspieler nach der Partie seiner Knicks gegen die LA Lakers am Freitagabend in der Umkleidekabine zu Reportern. Er sprach ruhig, aber bestimmt. Er wirkte wie einer, dem mulmig zu Mute ist. "Es besteht die Möglichkeit, dass ich getötet werde", erklärte der Mann, der für Erdoğan so etwas wie ein Staatsfeind ist. Dabei ist er nicht der einzige türkische Sportler, der sich gegen Erdoğan stellt. Der in Düren geborene Fußballer Deniz Naki etwa, der früher bei Leverkusen und St. Pauli Fußball spielte, nennt den AKP-Chef wegen seiner von Abneigung geprägten Einstellung gegen Kurden einen "Völkerrechtsbrecher". Auch Hakan Sükür, einst Volksheld bei Galatasaray und berühmtester Stürmer des Landes, hatte sich gegen den Präsidenten ausgesprochen, woraufhin er wegen "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrorgruppe" per Haftbefehl gesucht wurde - und in die USA flüchtete. Sükür ist wie Kanter leidenschaftlicher Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der in Pennsylvania lebt. Ihn macht die türkische Regierung weiterhin für den Putschversuch im Jahr 2016 verantwortlich.

Ob Kanters Reiseverzicht tatsächlich nur der Angst geschuldet ist oder ob er auch die Chance sieht, ein Statement zu platzieren, ist unklar. In jedem Fall ist der Fall nun ein Politikum, mit dem sich auch sein Klub mehr beschäftigen muss als geplant. Zunächst hatten die Knicks den Ausfall des Spielers auf der Europa-Tournee, wo ein Duell gegen die Washington Wizards ansteht, mit Visa-Problemen begründet. Das ist nicht ganz falsch, aber es war auch nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich ist Kanter offiziell staatenlos, nachdem ihm 2017 bei einer Kontrolle am Bukarester Flughafen auf Geheiß der türkischen Botschaft sein Pass abgenommen wurde. In der Türkei erkannte man ihm die Staatsangehörigkeit ab, was den Bruch mit seiner Heimat noch befeuerte.

2016 war Kanter schon wegen seiner politischen Ansichten von seiner Familie verstoßen worden, wie er damals in einem öffentlichen Brief bekannte. "Mein eigener Vater wollte, dass ich meinen Nachnamen ändere. Meine Mutter, die mir mein Leben geschenkt hat, hat mich ausgestoßen. Die Geschwister, mit denen ich aufwuchs, kennen mich nicht mehr. Meine Verwandten wollen mich nicht mehr sehen", teilte Kanter auf Twitter mit. Seinen Brief unterschrieb er mit "Enes (Kanter) GÜLEN". Seine Gesinnung habe ihn auch seine Karriere im Nationalteam gekostet, erklärte er nach seiner Ausbootung vor der EM 2015. Einen Abtrünnigen wie ihn habe der damalige Coach Ergin Ataman nicht im Kader haben wollen, glaubte Kanter.

Jetzt hat seine Politisierung auch Einfluss auf seine Situation im Klub. Es ist nicht auszuschließen, dass er bei weiteren Auslandsreisen, etwa zu PR-Terminen oder Trainingsaufenthalten, ebenso passen wird. London ist für Kanter zumindest keine Option, er verpasst lieber das Spiel, als es drauf ankommen zu lassen. "Traurigerweise kann ich nicht dorthin reisen wegen diesem verdammten Wahnsinnigen, dem türkischen Präsidenten", formulierte es der Basketballer mit ernster Miene, er finde es "traurig, dass all das Zeug meine Karriere und den Basketball beeinflusst, weil ich da draußen sein will und meinem Team zum Sieg verhelfen will". Er spare sich damit eine sehr "hässliche Situation".

Als NBA-Basketballer ohne Pass kann Kanter derzeit per Sondergenehmigung nur in Kanada ein- und ausreisen, wo die New York Knicks zuletzt im November gegen Toronto antraten. Es ist das komplizierteste Spiel seines Lebens, das Enes Kanter da gerade spielt.

© SZ vom 09.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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