Basketball:Im Wunderland der Alleskönner

Boston Celtics v Miami Heat - Game Four

Vierte Station innerhalb von vier Spielzeiten: Jimmy Butler (rechts), hier gegen Kemba Walker von den Boston Celtics, brilliert bei Miami Heat.

(Foto: Kevin C. Cox/AFP)

Der wertvollste Profi im Basketball muss nicht der auffälligste sein: Nach diesem Motto treibt Jimmy Butler seinen Klub Miami Heat im NBA-Halbfinale an.

Von Jürgen Schmieder, Orlando/Los Angeles

37 Punkte! Und weil die nackten Zahlen immer nur einen kleinen Teil der Geschichte erzählen, war direkt nach dem 112:109-Sieg von Miami Heat gegen die Boston Celtics jeder einzelne Aspekt dieser Heldentat im landesweiten Fernsehen zu sehen. Es ist schon überraschend, dass Miami Heat das Halbfinale der nordamerikanischen Basketballliga NBA erreicht hat, nun führen sie mit 3:1 und brauchen noch einen Sieg für den Einzug ins Finale. Der Held des Abends jedoch war einmal nicht Jimmy Butler, der in den Höhepunkten kaum zu sehen war. Es war der 20 Jahre alte Liga-Neuling Tyler Herro, der davor noch nicht einmal am College mehr als 29 Zähler geschafft hatte.

Dennoch steht die Partie symbolisch für den Erfolg von Miami in der Bubble im Bundesstaat Florida, denn wieder hatte Jimmy Butler großen Anteil daran mit Aktionen, die nicht in Zusammenfassungen auftauchen, sondern bei denen man aufpassen muss, sie nicht zu übersehen. Zum Beispiel der Rebound gegen Bostons deutschen Center Daniel Theis kurz vor der Halbzeit. Die Einzelaktion im dritten Viertel, mit der eine kleine Krise gestoppt wurde. Die zwei Balldiebstähle im Schlussviertel - Boston war in Führung gegangen, anschließend führte Miami wieder mit sechs Punkten.

Wie weit kann eine Mannschaft kommen, deren bester Spieler Jimmy Butler ist? Das ist eine legitime Frage, doch wurde sie vor Beginn der Playoffs von zahlreichen Experten derart spöttisch gestellt, dass die Antwort "nicht besonders weit" impliziert war. Miami ist die vierte Station innerhalb von vier Spielzeiten für Butler, er hatte sich bei den Chicago Bulls, Minnesota Timberwolves und Philadelphia 76ers mit Trainern, Management und/oder Mitspielern angelegt. Er galt aufgrund seiner aggressiven Art als toxisch fürs Klima in der Kabine, und als er vor den Playoffs sagte, dass er glaube, die Meisterschaft gewinnen zu können, da wurde das abgetan als typischer Jimmy-Butler-Größenwahn, verbunden mit der Spottfrage: Wie weit kann eine Mannschaft schon kommen, deren bester Spieler Jimmy Butler ist?

Die Bewertung individueller Fähigkeiten im Basketball erfolgt weitgehend immer noch anhand oberflächlicher Statistiken (Punkte, Rebounds, Zuspiele) und subjektiver Eindrücke: etwa, ob jemand am Ende einer Partie einen Wurf versenkt. Natürlich ist es wichtig, dass Anthony Davis für die Los Angeles Lakers im zweiten Halbfinale kürzlich mit der Schlusssirene getroffen hat, sein Verein führt auch deshalb mit 2:1 gegen die Denver Nuggets. Aber: Er war der Einzige, der geworfen hat - er hatte also als Einziger überhaupt die Chance, zum Helden zu werden.

Erik Spoelstra, der vor seinem Aufstieg zum Cheftrainer von Miami im Jahr 2008 nicht nur in der Jugendabteilung des deutschen Vereins TuS Herten gearbeitet, sondern in Miami viele Jahre im Videokeller verbracht hat, gilt als einer, der derart weit in den Kaninchenbau statistischer und taktischer Analysen vorgedrungen ist, dass er nun das Wunderland erreicht hat. Fürs Umsetzen seiner teils revolutionären Ideen braucht er nicht, wie derzeit üblich, zwei Starspieler, sondern andere Leute. Man kann es so ausdrücken: Die hoch gepriesenen Duos Kawhi Leonard/Paul George (Los Angeles Clippers), James Harden/Russell Westbrook (Houston Rockets), Joel Embiid/Ben Simmons (76ers) und Giannis Antetokounmpo/Khris Middleton (Milwaukee Bucks) sind längst im Urlaub. Aber Jimmy Butler ist in den Playoffs immer noch da. Und er definiert gerade neu, was es bedeutet, ein Anführer in der NBA zu sein.

Es mag auf dem Parkett oft ähnlich wirken, doch gibt es einen riesigen Unterschied zwischen einem Ego-Zocker und einem, der aus tiefster Seele glaubt, dass seine Mannschaft dann erfolgreich ist, wenn er möglichst oft den Ball in seinen Händen hat und ihn möglichst oft auf den Korb wirft. Die Wahrscheinlichkeit, dass Anthony Davis diesen Wurf in letzter Sekunde für die Lakers riskierte, lag nur deshalb bei 30 Prozent, weil sie beim Kollegen LeBron James bei knapp 70 Prozent lag. Die restlichen 0,001 Prozent verteilten sich auf die übrigen drei Lakers-Profis auf dem Platz.

Trainer Spoelstra dagegen hat in Miami ein System entwickelt, in dem sehr viel gepasst wird - und am Ende derjenige werfen soll, dessen Händchen gerade heiß ist. Das kann Butler sein oder Center Bam Adebayo, der in diesen Playoffs phänomenale Statistiken aufstellt und der am Ende der ersten Partie gegen Boston mit einem wahnwitzigen Block verblüffte. Es können Drei-Punkte-Würfe von Duncan Robinson sein oder 37 Punkte von Tyler Herro wie am Mittwoch. Der Spieler mit den meisten Wurfversuchen pro Spiel in dieser Saison: Neuling Kendrick Nunn, den Spoelstra derzeit gar nicht mehr spielen lässt.

Es klingt banal, dass derjenige werfen soll, der sich gerade am besten fühlt. Aber wie oft fordern TV-Kommentatoren gegen Ende einer Partie, dass der Ball nun gefälligst in die Hände des Superstars gehört? Zudem ist Basketball eine komplizierte Angelegenheit, der Gegner weiß auch, welcher Miami-Heat-Spieler in Bestform ist und den Ball erhalten soll. Dann stellt Spoelstra spontan um, so wie er in der Defensive plötzlich auf Manndeckung verzichtet und meist Raumverteidigung anordnet. Spoelstra will vielseitige Generalisten.

Es braucht also in der Ego-Liga NBA einen Typen, der als Anführer akzeptiert ist, indes nicht dauernd selbst glänzen muss. Butler ist der Antreiber. Es ist ihm vermutlich schon wichtig, mit 32,7 Millionen Dollar Saisongehalt der mit großem Abstand bestbezahlte Spieler seines Teams zu sein; Herro erhält 3,6 Millionen, Adebayo 3,4 Millionen. Butler hat aber in Miami eine Struktur gefunden, in der er aufblühen darf, aber nicht unbedingt glänzen muss. Nun glänzt er in diesen Playoffs, deshalb ist sein Verein erfolgreich.

Die beste Einschätzung stammt von Butler selbst. Er sagte zu Beginn der Saison: "Ich werde nicht irgendwas mit Das-Team-auf-meine-Schultern-packen sagen. Ich weiß, was ich kann, und ich weiß, was meine Kollegen können. Nur weil sie noch nicht bekannt sind, heißt das nicht, dass man sie übersehen darf. Die werden sehr bald dafür sorgen, dass jeder ihre Namen kennt." Spätestens seit Mittwochabend weiß jeder Basketballfan, wer Tyler Herro ist - und ahnt nun, wie weit eine Mannschaft kommen kann, deren bester Spieler Jimmy Butler ist.

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