Baseball:Bryant zu Rizzo

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Führung, Ausgleich, Verlängerung, Regenunterbrechung: Der erste World-Series-Sieg nach 108 Jahren gelingt den Chicago Cubs in einem spannenden Finale und einer epischen Baseball-Nacht.

Von Jürgen Schmieder, Cleveland/Los Angeles

Frank Pierce Adams hat vor mehr als 100 Jahren das wohl traurigste Gedicht der Sportgeschichte verfasst. Es heißt "Tinker to Evers to Chance", es beschreibt aus Sicht eines Anhängers der New York Giants jenen Moment im Oktober 1908, als die Chicago Cubs mit dem Spielzug von Joe Tinker, Johnny Evers und Frank Chance die Hoffnungen der Giants zertrümmern. Das Herz von Adams, es war gebrochen. Die Cubs erreichten damals die Finalserie der nordamerikanischen Baseballliga MLB. Ein paar Tage später gewannen sie den Titel.

"Tinker to Evers to Chance" war der letzte grandiose Moment für diesen Klub - bis zum Mittwochabend. Als nach viereinhalb Stunden Spielzeit, im entscheidenden siebten Spiel der World Series, der Ball zu Kris Bryant kullerte und der ihn in den Handschuh seines Kollegen Anthony Rizzo warf. Die Cubs siegten bei den Cleveland Indians 8:7 nach Verlängerung, sie schafften in dieser Finalserie nach 1:3-Rückstand ein grandioses Comeback und wurden zum ersten Mal nach 108 Jahren wieder Meister.

Und nun könnte jemand ein wunderbares Gedicht verfassen über diesen Augenblick kurz nach Mitternacht, den es so nur im Baseball gibt. Die Cubs führten im zehnten Spielabschnitt mit einem Punkt, die Indians hatten jedoch nach zwei gescheiterten Versuchen einen Akteur zur ersten Base befördert, am Schlagmal stand Michael Martinez. Sollte Martinez den Ball jetzt auf die Tribüne prügeln, würde Cleveland mit einem Schlag den Titel gewinnen; sollte ihm kein Treffer gelingen, dann würden die Cubs Meister sein. Das Spiel, die Finalserie, die Saison, sie sollte sich in diesem einen Moment entscheiden. Martinez schlug, er traf, doch der Ball flog nicht aus dem Stadion, sondern rollte nur ein paar Meter weit. "Bryant to Rizzo", das war der letzte Vers dieses Mittwochabends, der alles beendete: das Spiel, die Saison, das Warten.

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(Foto: Matt Slocum/AP)

Der Moment, auf den die Chicago Cubs 108 Jahre lang warten mussten: Der Gewinn des Baseball-Titels steht fest.

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(Foto: David Richard/USA Today Sports)

Der Schläger von Mike Napoli in Trümmern, Rückstand, eins zu fünf hinten: Für Cleveland begann das Spiel richtig schlecht.

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(Foto: Tannen Maury/dpa)

Außer Reichweite: Nachdem Clevelands Rajai Davis den Ball nicht fangen konnte, führten die Cubs 6:3 - und mussten doch wieder den Ausgleich hinnehmen.

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(Foto: David J. Phillip/AP)

Dann kam der Regen und das Spielfeld wurde eiligst vor den Tropfen in Sicherheit gebracht - 17 Minuten Pause, die die Teams in den Kabinen verbrachten.

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(Foto: Ken Blaze/USA Today Sports)

Die Aktion, auf die Chicago 108 Jahre lang gewartet hatte: Anthony Rizzo hat den Ball, Clevelands Martinez kommt zu spät, die Cubs sind Meister.

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(Foto: David J. Phillip/USA Today Sports)

Spät am Siegesabend: Cubs-Manager Theo Epstein (li.) und Trainer Joe Maddon halten den Pokal, die "Commissioner's Trophy" in ihren Händen.

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(Foto: Tasos Katopodis/AFP)

In den Straßen von Chicago bejubeln die Fans den historischen Titelgewinn in der "World Series".

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(Foto: Andrew Harnik/AP)

Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton ist in Chicago geboren. Öffentlich freut sie sich mit den Cubs.

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(Foto: David J. Phillip/AP)

Mit Skibrillen gegen Schampusspritzer: Party in der Umkleidekabine der neuen Titelträger.

"Bryant to Rizzo", in diesem Spielzug verdichtete sich auch ein Jahrhundert amerikanische Sportgeschichte. Die vorerst letzte Meisterschaft der Cubs im Jahr 1908 natürlich, oder der vorerst letzte Einzug in die Finalserie vor 71 Jahren; die Cubs verloren damals 3:4 gegen Detroit. Anschließend fiel der Klub von einer Enttäuschung in die nächste. In der entscheidenden Halbfinal-Partie 1984 verspielten sie ein 3:0- Polster. Und dann war da noch die Halbfinal-Serie 2003. Als die Cubs bereits mit 3:1-Spielen gegen die Florida Marlins führten. Als sie sich im sechsten Spiel schon als Finalisten fühlten. Als Outfielder Moises Alou in der Nähe der Tribüne einen Ball aus der Luft fangen wollte und von einem Fan behindert wurde. Woraufhin die Marlins das Spiel und die Serie doch noch für sich entschieden. Die Cubs, das war lange Zeit ein Gesetz im Baseball, durften gerne in Führung liegen und wie der kommende Meister wirken. Am Ende aber, da muss der im Jahr 1870 gegründete Verein verlieren, und das möglichst tragisch. Die Cubs, das waren keine Gewinner, sondern liebenswerte Verlierer.

Glaubt an Zahlen statt an Flüche: Cubs-Manager Theo Epstein schuf die Basis für den Titel

Auch das Spiel am Mittwoch folgte zunächst diesem Skript: Die Cubs führten schnell 5:1, doch dann leisteten sich Catcher David Ross und Werfer Jon Lester groteske Fehler: nur noch 5:3. Nach einem Homerun von Ross sah es wieder gut aus für Chicago, dann wechselte Trainer Joe Maddon den stark spielenden Lester aus und schickte Aroldis Chapman aufs Wurfmal, den Held der fünften Partie. Es war ein Schachzug, der die Cubs beinahe in die Niederlage führte und der bei unglücklichem Ausgang wohl zum Gedicht "Chapman for Lester" inspiriert hätte. Denn Chapman warf zunächst wackelig, er erlaubte Rajai Davis einen Homerun zum 6:6.

Es ging in die Verlängerung. Natürlich begann es genau jetzt zu regnen. Weil nun wegen Unterbrechung 17 Minuten lang Pause war, durften manche Cubs-Fans Figuren von Ziegen in die Kameras halten. Die Legende besagt ja, dass auf dem Verein seit dem Oktober 1945 ein Fluch lastet, weil einem Fan und seiner Ziege damals der Eintritt ins Stadion verweigert worden war und dieser zornig rief, dass die Cubs nie wieder etwas gewinnen mögen.

Auf der Tribüne war auch Theo Epstein zu sehen, der genialische Manager der Cubs, der die Boston Red Sox 2004 zum ersten Titel seit 86 Jahren geführt hatte. 2011 kam er zu den Cubs, er entstaubte den traditionsreichen, aber erfolglosen Klub, bastelte nach statistischen Kriterien einen Kader voller talentierter und oft unterschätzter Spieler. Epstein glaubt nicht an Flüche, sondern an Zahlen. Er verpflichtete vor zwei Jahren den unkonventionellen Trainer Maddon, der Epsteins Vision teilte und bei seiner ersten Pressekonferenz sagte, dass er möglichst schnell die World Series gewinnen wolle. Die Journalisten lachten, Maddon jedoch verzog keine Miene.

Er formte aus den von Epstein verpflichteten Talenten ein Kollektiv, das nach der Hauptrunde 2016 bereits die beste Bilanz aller Mannschaften vorwies (103:59-Siege) und auch die entscheidende Partie nicht verlor. Die Cubs schafften in der Verlängerung zwei Läufe und gestatteten den Indians - die übrigens seit 1948 auf einen Titel warten - nur noch einen. Nach Mitternacht warf Bryant zu Rizzo, es war vorbei.

"Die meisten Mannschaften wären zerbrochen, wenn sie eine Führung vergeigt hätten wie wir", sagte Ben Zobrist, der mit zehn Treffern in drei Spielen die Aufholjagd der Cubs in der Finalserie orchestriert hatte und als wertvollster Spieler ausgezeichnet wurde: "Wir haben uns während der Regenpause im Kraftraum getroffen und festgestellt, dass wir die bessere Mannschaft sind in einer der großartigsten Partien in der Geschichte dieses Sports. Wir mussten nur ganz schnell vergessen, was bislang passiert ist."

Was an diesem Abend in Cleveland passiert ist, dürfte kaum jemand vergessen, der es gesehen hat. Und vielleicht wird jemand ja ein paar Verse schreiben: über den Abend, diese Saison, diese Chicago Cubs. Sie dürften nicht so traurig sein wie "Tinker to Evers to Chance", sie dürften von Epstein handeln und von Maddon - und natürlich von Zobrist, wie er den Ball im ersten Abschnitt der Verlängerung ins Feld schlägt und seine Mannschaft in Führung bringt. "Cubs Win" wäre ein schöner Titel für dieses Gedicht, mit dem sich die Fans nun gegenseitig versichern dürfen, dass ihre Cubs tatsächlich Gewinner sind.

© SZ vom 04.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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