Barcelona in der Champions League:Bis im Camp Nou die Mauern wackeln

  • Hat es einen solchen Wahnsinn im Fußball schon einmal gegeben? Der FC Barcelona schafft beim 6:1 gegen Paris im Achtelfinale das größte Comeback der Champions-League-Geschichte.
  • Beteiligt sind die Barça-Helden Messi, Suarez und Neymar - aber auch einige Deutsche.
  • In Barcelona hatte Trainer Luis Enrique nach dem 0:4 im Hinspiel tatsächlich noch an das Wunder geglaubt.

Von Thomas Hummel

Es ist ein bekanntes und ebenso erstaunliches Phänomen: Wenn der FC Barcelona einen historischen Sieg landet, dann geht neun Monate später in der Stadt die Geburtenrate nach oben. Als Andres Iniesta einmal beim FC Chelsea in letzter Sekunde ein Tor schoss oder als Erzfeind Real Madrid mit 6:2 besiegt wurde. 45 Prozent mehr Babys - respektive neue Barça-Fans - kamen danach im fraglichen Zeitraum zur Welt. Insofern war die Aufforderung von Abwehrmann Gerard Piqué durchaus ernst zu nehmen: "Die Krankenhäuser werden in neun Monaten mehr Schwestern benötigen, denn heute Nacht wird in der Stadt sehr viel Liebe gemacht."

Wer die Szenen im Camp Nou, dem monumentalen Stadion des FC Barcelona, am Mittwochabend gesehen hatte, den würde das nicht wundern. Ekstase ist das richtige Wort, um die wilden Umarmungen, Jubelschreie, die Menschenknäuel zu beschreiben. Dem Tor von Sergi Roberto in der fünften Minute der Nachspielzeit gegen Paris Saint-Germain, das den Verbleib in der Champions League nach dem 0:4 im Hinspiel sicherstellte, folgte ein kolossaler Gefühlsausbruch. Verzerrte Gesichter, Tränen, hüpfende Kinder und Rentner, knuddelnde Männer und Frauen.

Auch unten auf dem Rasen wirkten die Beteiligten wie entrückt. Wie im Taumel. Die einen vor Glück, die anderen vor Entsetzen.

Doch zum Anfang. Barcelona wollte als erste Mannschaft überhaupt nach einem Vier-Tore-Rückstand noch in die nächste Runde aufsteigen. Trainer Luis Enrique hatte nach dem Debakel in Paris seinen Rücktritt zum Saisonende angekündigt und dennoch ohne Unterlass davon gesprochen, dass dieses Fußballwunder möglich sei. "Wenn es möglich ist, dass PSG gegen uns vier Tore macht, dann können wir auch sechs schaffen." Hatte Luis Enrique vor dem Spiel tatsächlich gesagt.

Er riskierte viel, bot nur drei Verteidiger auf und formierte hinter drei Angreifern eine offensive Dreierreihe im Mittelfeld. Luis Suarez, einer aus dem Sturm-Dreizack, schoss gleich das 1:0 (3.), das Spektakel begann. Nach einem Eigentor des Parisers Layvin Kurzawa (40.) war die Hälfte schon geschafft. Kurz nach der Pause gab der deutsche Schiedsrichter Deniz Aytekin (über den noch zu reden sein wird) einen Elfmeter, weil Neymar über einen ausgerutschten Verteidiger gefallen war - Messi verwandelte zum 3:0. Die Pariser mit dem Deutschen Kevin Trapp im Tor und Julian Draxler im Mittelfeld schwankten schon da einem Debakel entgegen.

Doch plötzlich traf Edinson Cavani zum 1:3 (62.). Der Italiener Marco Verratti sollte später erklären: "Die Barça-Spieler auf dem Platz sagten mir: Es ist vorbei." Und es war ja auch vorbei. Noch drei Tore? Bis zur 87. Minute passiert nichts mehr. Barcelona war draußen, das schien so sicher wie das Amen in der Sagrada Familia. Dachten alle. Außer Neymar.

Der Brasilianer ist einer der besten Spieler der Welt. Aber in Barcelona huldigen sie dem Argentinier Messi. Neymar bleibt normalerweise nur der Platz des Zweitbesten. Doch an diesem Mittwoch drehte er die Rangliste. Neymar war der Baumeister dieses katalanischen Fußballwunders, das sich zwischen der 87. und 95. Minute abspielen sollte.

Zuerst schoss er einen Freistoß aus 20 Metern haargenau in den Torwinkel, Torwart Trapp schaute nur verblüfft hinterher - 4:1. Dann segelte der Ball in den Pariser Strafraum, Verteidiger Marquinhos beachtete aber nicht die Kugel, sondern traf Luis Suarez mit dem Arm am Hals, was der zum wiederholten Male zu einer Flugeinlage nutzte. Schiri Aytekin, einer der besten der Bundesliga, erkannte wieder auf Elfmeter für Barcelona, Neymar verwandelte sicher zum 5:1 (91.). Nun lief auch Barcelonas deutscher Torwart Marc-André ter Stegen nach vorne, verhinderte gar einen Pariser Konter auf das leere Tor.

Die Sekunden vergingen, die letzte Minute der Nachspielzeit lief längst. Neymar hatte noch mal den Ball, spielte einen Pariser aus. Doch was sollte er 30 Meter vor dem Tor mit der Kugel anfangen? Für einen Schuss war es zu weit, für eine Flanke stand er zu zentral. Alle Spieler warteten vor ihm aufgereiht am Strafraum. Da lupfte der den Ball über alle hinweg in den Strafraum hinein, genau dorthin, wo ihn Sergi Roberto mit einer Fluggrätsche vor Torwart Trapp erreichen konnte. Es war eine sensationelle Vorlage. 6:1. Die Mauern des Stadions erzitterten, die Katalanen hatten diese Nummer tatsächlich noch umgebogen. Es war das größte Comeback in der Historie der Champions League.

Alle flippen aus - alle

Die Wucht des Ereignisses entfaltete sich auch über die Bildschirme in alle Welt. Die Expertenrunde im Londoner Sender BT Sports mit Gary Lineker, Rio Ferdinand, Steven Gerrard und Michael Owen führte beim entscheidenden Treffer einen wilden Jubeltanz auf. Dabei hat einst nur Lineker in Barcelona gespielt, Owen war gar für Real Madrid aktiv gewesen.

Als im Camp Nou die Ersten wieder sprechen konnten, wurde es pathetisch. "Das war das beste Spiel, in dem ich je dabei war", erklärte Neymar. Trainer Luis Enrique sagte: "Dieser Sport ist einmalig, zum Verrücktwerden. Diese Nacht wird kein Kind je vergessen, und auch kein Erwachsener." Barcelonas Zeitung Sport schrieb in Großbuchstaben: "APOTHEOSE!" Gottwerdung!

Und wo der eine zum Fußballgott wird, steigt der andere ab in die Hölle der historischen Verlierer. Paris Saint-Germain ist ja keineswegs der mittellose Außenseiter, sondern eine vom Staatsfonds Katar hochgerüstete Weltauswahl. Präsident Nasser al-Khelaïfi war extra nach Barcelona gekommen, um sich zum Weiterkommen seines Vereins gratulieren zu lassen. Nun stand er als Geschlagener im Bauch des Camp Nou: "Das ist sehr schwer zu akzeptieren, aber wir haben keine Wahl. Drei Gegentore in den sieben letzten Minuten, das ist hart."

Trainer Unaj Emery beschwerte sich über die zweifelhaften Elfmeterpfiffe des Schiedsrichters. Aber auch er musste zugeben, dass seine Mannschaft schon in der ersten Halbzeit mutlos und blutleer über den großen Rasen in Barcelona gewankt war. Und nach dem 4:1 von Neymar in Panik geriet. Ganze vier Pässe brachten die Pariser zwischen der 88. und 95. Minuten zum eigenen Mitspieler, die drei Anstöße nach den Gegentoren mitgerechnet. Die Angst vor der Blamage lähmte die Fußballmillionäre aus Paris. Am Ende brach die befürchtete Katastrophe über sie herein. Die Sportzeitung L'Équipe titelte: "Historischer Untergang." Eine erhöhte Geburtenrate wegen emotionsgeladener Fußballfans muss Frankreich in neun Monaten jedenfalls nicht befürchten.

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