Die Nachricht, die Deutschland am 16. Mai erreichte, schien ziemlich groß zu sein. Michael Ballack falle für die WM in Südafrika aus, meldeten die Nachrichtenagenturen im Eilmodus, und wer sich Zeit nahm, die Meldungen in Ruhe durchzulesen, erfuhr die genaue Diagnose: "Riss des Innenbandes und Teilriss des vorderen Syndesmosebandes im rechten oberen Sprunggelenk".
Die Nachricht, die Deutschland am 5.Juli erreicht, scheint auf den ersten Blick viel kleiner zu sein. Michael Ballack habe die Heimreise angetreten, heißt es schlicht in einem Verbands-Kommuniqué, "auch auf Anraten von Teamarzt Müller-Wohlfahrt". Die DFB-Homepage zitiert Ballack mit ein paar harmlosen Sätzen, seine Heilung verlaufe "glänzend", es gehe "schneller voran als geplant". Allerdings seien "die Bedingungen für meine Reha-Behandlung in Südafrika nicht mehr optimal", weil "der Fokus der medizinischen Abteilung des DFB derzeit ganz klar auf dem Team" liege. Hinter all dem Verlautbarungskauderwelsch verbarg sich eine Nachricht, die größer kaum sein konnte: In Wahrheit deutete sich am Montagabend nichts weniger als das Ende einer Ära an - das Ende der Ausnahmestellung Michael Ballacks bei der Nationalmannschaft. Mindestens.
Lahm will die Binde behalten
Eine Staatsaffäre wurde aus Ballacks Heimreise spätestens in jenem Moment, in dem ein Satz öffentlich wurde, den Philipp Lahm am Montag in einer Interviewrunde gesagt hatte. Der Satz lautete: "Ich werde meine Kapitänsbinde nicht freiwillig abgeben." Dieser Satz klang nicht nur wie eine Kampfansage - er sollte auch so verstanden werden. Als Empfänger war der alte Amtsinhaber bestimmt, der nicht nur aus Lahms Sicht künftig weniger dringend benötigt wird als früher. Hinter Lahm steht der Mannschaftsrat mit Per Mertesacker, Miroslav Klose, Bastian Schweinsteiger und Arne Friedrich. Schweinsteiger hatte sich am Nachmittag in der internationalen Pressekonferenz auffällig gewunden, als er auf Ballacks Anwesenheit im Teamquartier angesprochen wurde. Es sei "schön", dass er hergekommen sei, um die Mannschaft "auf eine gewisse Art und Weise" zu unterstützen, sagte Schweinsteiger, um dann im Nachsatz zügig zur Wahrheit überzugehen: "auch wenn er nicht so nah an der Mannschaft dran ist".
Lahms Offensive ist aus einer Entwicklung entstanden - und aus der Eigendynamik eines erfolgreichen Turniers. Das deutsche Team hat die Fußballwelt aus den Angeln gehoben, und Lahm hat ihr auf eine neue, demokratische Art und Weise den Weg gewiesen. So erklärt sich der Werdegang seines Anspruchs. Am 31.Mai, im Trainingslager in Südtirol, sagte er der SZ in seinem ersten Interview als neuer Kapitän: "Ich gehe davon aus, dass Michael nach der WM wieder unser Kapitän sein wird. Ich bin es jetzt erst mal beim Turnier, solange Michael nicht da ist." Seitdem ist viel passiert.
Eigener Teamgeist - ohne Ballack
Ballack hat sich vermutlich keinen Gefallen damit getan, dass er am vergangenen Donnerstag nach Kapstadt gereist ist, um die Mannschaft zu besuchen. Er fand keinen Zugang zu seinem alten Team, das in den sechs Wochen ohne ihn einen eigenen Geist entwickelt und eine neue Gemeinschaft gebildet hat. "Es hat keiner richtig Zeit für ihn", sagt ein DFB-Stabsmitglied. Wie fremd Ballack dieser neuen Gemeinschaft gegenüberstand, haben auch die Szenen nach dem Spiel gegen Argentinien gezeigt. Er jubelte mit Betreuern und Funktionären - nicht mit den alten Mitspielern.
Wie diese Geschichte einer Emanzipation und schleichenden Entfremdung ausgeht, ist zurzeit noch schwer abzuschätzen. Ballack hat 98 Länderspiele bestritten, er will nicht nur sein DFB-Jubiläum feiern, sondern auch bei der nächsten EM mitspielen. Auf diesem Wunsch beruht nicht zuletzt sein Wechsel nach Leverkusen, der einerseits eine Heimkehr ist, andererseits Gewähr dafür bieten soll, dass er sich auf hohem Niveau für die Nationalelf empfehlen kann. Für Bundestrainer Joachim Löw wird es - sofern er sich entschließt weiterzumachen - nicht leicht, diesen Generationenkonflikt zu moderieren.
Die erste Gelegenheit, seine Dispositionen zu offenbaren, hat Löw beim Länderspiel Mitte August in Dänemark. Es wäre eine große Überraschung, wenn dann der Kapitän nicht Philipp Lahm hieße. Ob Ballack bereit ist, sich unter dieser Voraussetzung einzureihen, muss zuallererst er selbst entscheiden. Wie willkommen er ist, wird ihm dieser Satz sagen: Auf die Frage, ob die DFB-Elf Ballack noch brauche, antwortete Lahm: "Es steht mir nicht zu, dass ich bei dieser Frage ja oder nein sage."