Radsport bei den European Championships:"Die Gefahr steigt"

Radsport bei den European Championships: Sophie Capewell kam in einer der ersten Runden zu Fall.

Sophie Capewell kam in einer der ersten Runden zu Fall.

(Foto: Sebastian Widmann/Getty Images)

Das Bahnradoval in der Münchner Messe ist 50 Meter kürzer als üblich. Dadurch steigt die Fliehkraft - und das Risiko für die Fahrer. Olympiasiegerin Kristina Vogel sieht die Konstruktion kritisch.

Von Andreas Liebmann

Almería. Seltsam, in einer klimatisierten Münchner Messehalle ausgerechnet an eine Wüste vor einer andalusischen Hafenstadt zu denken. Vielleicht liegt es an der Hitze draußen. Die Tabernas-Wüste vor Almería sieht ein bisschen aus wie manch karger Landstrich in Nordamerika, deshalb wurden dort seit den Sechzigerjahren viele Western gedreht. Spiel mir das Lied vom Tod, Die glorreichen Sieben, Vier Fäuste für ein Halleluja, Der Schuh des Manitu - die Liste ist lang. Viele Kulissen blieben danach einfach stehen. Einsam in der Landschaft verstreut, kann man sie besichtigen: vorne vermeintlich ein Saloon oder eine Kirche, hinten nichts als ein Geflecht aus Holzlatten und Pappmaschee.

Die Messehalle C1 hat natürlich nichts von einer Wüste, außer dass es hier ebenso still ist am Vormittag des Eröffnungstags. Der Luftzug von draußen weht trotzdem keine rollenden Büsche herein. Aber dass man, egal durch welche Tür man eintritt, zunächst auf ein riesiges Geflecht aus Holzbalken und Stahlstreben stößt, das die ganze Halle bis an den Rand ausfüllt und hinter dem sich etwas ganz anderes verbirgt, das ist schon so.

In diesem Fall ist es die Radrennbahn. Kurz einen der Tunnel im Geflecht durchquert, schon öffnet sich eine andere Welt - die allerdings wenig von einer Westernstadt hat. Die letzten Übertragungsproben laufen, überall stehen Monitore auf Schreibtischen und an Ständern, im TV werden gerade die Kletterwettbewerbe vom Königsplatz gezeigt. Ein paar Athleten treten in die Pedale von Standrädern, ein Schwede, eine Norwegerin. Man steht hier inmitten des Holzbahn-Ovals, das sich an den äußeren Rändern bis kurz unters Dach erstreckt. Ein paar Athleten drehen oben ihre Aufwärmrunden, kreisen über den Köpfen der Menschen im Innenraum, die Zuschauer auf den Tribünenplätzen direkt unter dem Hallendach könnten sie fast berühren. Überall im Innenraum stehen und hängen futuristische Hightech-Spezialräder herum, manche so teuer wie ein Kleinwagen, andere auch teurer.

"Unorthodox", findet Kristina Vogel die Anlage. Hier steige die Gefahr von Stürzen

Hier also soll es in den kommenden Tagen viele deutsche Medaillen geben. 22 Entscheidungen werden ausgefahren bis Dienstag. Hier wird Lisa Brennauer, die siebenmalige Weltmeisterin aus Kempten, ihre letzten Bahnradauftritte vor dem Karriereende absolvieren, ehe sie sich dann auch noch in den Straßenrennen verabschiedet.

"Unorthodox", sagt Kristina Vogel. Sie blickt sich um.

Für Kristina Vogel haben die Erbauer einen ganz besonderen Platz geschaffen. Die 31-Jährige kommentiert die Wettkämpfe als Expertin fürs ZDF, üblicherweise sitzt man dazu auf einem Tribünenplatz. Doch alles ist so eng in diese Halle gepfercht, dass es keine Möglichkeit gab, die Plätze dort oben zugänglich zu machen für den Rollstuhl, auf den die zweimalige Olympiasiegerin seit einem Trainingsunfall vor vier Jahren angewiesen ist. Also hat man inmitten dieses Ovals im Innenraum ein Podium gebaut, von dem aus sie kommentiert, von dem aus sie die Fahrerinnen hinter ihrem Schreibtisch abklatschen könnte, wie sie schmunzelnd feststellt, und das fugenlos in ein anderes Podium übergeht, auf dem die Siegerehrungen stattfinden. Nach den Mannschaftsbewerben kann es eng werden für die Kommentatoren.

Das "unorthodox" allerdings bezieht sie auf die Anlage selbst, die hier binnen 14 Tagen errichtet wurde. Aus Platten statt aus einzelnen Holzbrettern ist die Fahrbahn zusammengefügt, und weil die Halle eben nicht mehr hergab, ist die Runde nur 200 statt der üblichen 250 Meter lang. In der Olympiahalle, wo früher das Sechstagerennen stattfand, wird in diesen Tagen geturnt. Es gebe nun mal diese "Range", ähnlich wie bei Fußballfeldern, die ja auch zwischen 90 und 120 Meter lang sein dürfen, erläutert Manuel Deutschmeyer, der Sprecher des Veranstalters. Diese Vorgaben erfülle man, "sonst wären wir ja nicht medaillenfähig". Die Messe sei ein toller Partner, der viel Platz und die erforderliche Infrastruktur biete, deshalb sei dieser Standort für die Bahnradrennen perfekt gewesen.

Mittags im Teamsprint kollidieren zwei Britinnen, ihr Sturz endet aber glimpflich

Sie sehe das Ganze zweigeteilt, sagt Kristina Vogel. Einerseits freue sie sich, dass ihrer Sportart so viel Aufmerksamkeit zuteil werde durch die Eingliederung in die European Championships. Andererseits - und dieses Aber ist ihr ein paar Sätze mehr wert - erhöhe sich durch das Fehlen der 50 Meter nun mal enorm der Kurvendruck. "Die Taktik verändert sich extrem, das wird für alle sehr anspruchsvoll", sagt sie, und: "Die Gefahr steigt!" Wegen der starken Fliehkräfte. Man hört, dass die Banden, die oben die Zuschauer von den Athleten trennen, kurzfristig noch einmal erhöht worden sind. Bei den Commonwealth Games in Birmingham Ende Juli hatte es mehrere schlimme Stürze gegeben, bei einem katapultierte es den Engländer Matt Walls über eine solche Bande ins Publikum. Vogel sorgt sich, dass es auch hier zu bösen Stürzen kommt. Mehr als 70 Stundenkilometer erreichen die Frauen in der Spitze, die Männer noch zehn mehr, Bremsen gibt es ohnehin keine - und wer wüsste besser als Kristina Vogel, was alles passieren kann in dieser Sportart. Der Keirin, der Kampfsprint, steht erst am abschließenden Dienstag bevor, offenbar zögern manche Verbände noch, daran teilzunehmen.

Radsport bei den European Championships: Matt Walls (oben) aus England, George Jackson aus Neuseeland und Joshua Duffy aus Australien stürzen beim 15-km-Scratch-Rennen bei den Commonwealth Games.

Matt Walls (oben) aus England, George Jackson aus Neuseeland und Joshua Duffy aus Australien stürzen beim 15-km-Scratch-Rennen bei den Commonwealth Games.

(Foto: Alex Broadway/dpa)

Mit der Stille ist es bereits am Nachmittag vorbei. Tags darauf, am Freitag, ist die Halle erstmals ausverkauft, mit etwa 1700 Tickets. Mehr Zuschauersitze hätten gar nicht unter dieses Dach gepasst.

Mittags im Teamsprint-Halbfinale stürzen zwei Britinnen, knallen unsanft auf die Helme, ihre Delegation gibt aber schnell Entwarnung: Beiden gehe es gut. Die deutschen Teamsprint-Weltmeisterinnen um Emma Hinze kommen ins Finale, sie werden später Gold holen, die zweite Medaille für Deutschland bei dieser EM auf dieser Bahn. In der Mannschaftsverfolgung rollt der deutsche Vierer um Brennauer maschinengleich durchs Halbfinale, setzt sich mit fast vier Sekunden Vorsprung durch auf seinen 4000 Metern, gegen Großbritannien, immerhin Finalgegner beim Olympiasieg von Tokio. Trotzdem haben Franziska Brauße (Metzingen), Lisa Brennauer, Lisa Klein (Saarbrücken) und Mieke Kröger (Bielefeld), die obendrein Weltmeisterinnen sind und den Weltrekord halten, die Britinnen am Ende fast sogar eingeholt, ihnen also fast jene halbe Runde abgeknöpft, um die die beiden Teams versetzt ins Rennen starten. Sie haben sich in Augsburg vorbereitet, die Bahn dort ist ähnlich bemessen.

Es bleibe knifflig, teilt Brennauer mit, aber man habe sich an die schwierigeren Kurven gewöhnt. Und zu ihrem Karriereende? Das blende sie aus, lässt sie wissen. Am Samstag wird sie noch an der Einerverfolgung teilnehmen, danach dann noch die Straßenrennen, alles mitnehmen, was geht. Das Finale am Nachmittag bringt keine Überraschung. Die deutschen Frauen setzen sich in der Mannschaftsverfolgung auch gegen Italien durch. In einem unglaublich spannenden Rennen, in dem sie drei Kilometer lang nur zurückliegen, holen sie damit die erste Goldmedaille hier in der Messe. Und zu Wildwest-Szenen ist es auch nicht gekommen.

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