Badminton:Senkrechtstart eines Phantoms

Badminton: Sie tourt erfolgreich durch die Welt: Polina Buhrova, hier bei ihrem Heimspieldebüt für den TSV Neuhausen-Nymphenburg.

Sie tourt erfolgreich durch die Welt: Polina Buhrova, hier bei ihrem Heimspieldebüt für den TSV Neuhausen-Nymphenburg.

(Foto: Anke Lütticke / oh)

Seit die Bomben in ihrer Heimat einschlugen, arbeitet die 18-jährige Ukrainerin Polina Buhrova aus dem Exil an ihrer Badminton-Karriere - und ist nebenbei Hoffnungsträgerin des Erstligisten Neuhausen-Nymphenburg. Der Weg an die Weltspitze ist ihre Art, mit Angst und Ohnmacht umzugehen.

Von Sebastian Hepp

"Wo ist Buhrova?" Für manchen Fan des Badminton-Erstligisten TSV Neuhausen-Nymphenburg dürfte sich der Wunsch, das junge Ausnahmetalent aus der Ukraine endlich live zu Gesicht zu bekommen, im Lauf der Zeit zu einer ähnlich bohrenden Frage verdichtet haben wie einst bei ZDF-Reporter Bruno Moravetz die vergebliche Ausschau nach dem damals 19-jährigen deutschen Skilanglauftalent Jochen Behle. Moravetz' immer wieder gestellte Frage "Wo ist Behle?" während der Fernsehübertragung von den Olympischen Winterspielen aus Lake Placid am 17. Februar 1980 ist bis heute legendär, denn Behle war - obwohl er das Rennen lange dominiert hatte und am Ende Zwölfter wurde - von der Regie damals tatsächlich nur einmal ganz kurz gezeigt worden.

Die große Neugier auf Buhrova hatte zwei Gründe: ihre starken Leistungen - und die tatsächlich lange Wartezeit, bis der Spielplan und die internationalen Verpflichtungen der 18-Jährigen es endlich zuließen, dass sie ihr Heimspieldebüt gab: Erst zum Hinrundenende am 10./11. Dezember klappte es, und ausgerechnet da verlor sie an beiden Tagen in nervlich instabiler Verfassung ihre Einzel.

Auswärts hatte Buhrova bis dahin längst einen bleibenden Eindruck hinterlassen, etwa gegen Refrath, als sie die deutsche Olympiateilnehmerin Ann-Kathrin Spöri aus Geretsried bezwang; mit weiteren Erfolgen gegen Camilla Martens (Wittorf) und die starke Rachel Sugden (Lüdinghausen) erwarb sie sich gehörigen Respekt in der Liga, und auch auf der Profitour verbesserte sie ihr Ranking in der Einzelweltrangliste der Damen zuletzt deutlich: Vor einem halben Jahr wurde sie an Position 160 geführt, mittlerweile steht sie auf 67. "Für ihr Alter ist das sensationell", findet Philipp Blonck, Neuhausens Teammanager. Nur für die eigenen Zuschauer blieb sie lange ein Phantom.

Ihr Stützpunkt in Charkiw ist durch Bomben schwer beschädigt, also trainiert sie nun in ganz Europa

Buhrovas Senkrechtstart ist wie so viele sportliche Leistungen junger ukrainischer Athletinnen und Athleten auch vor dem Hintergrund des psychischen Drucks zu sehen, den der Krieg in ihrer Heimat mit sich bringt - und damit umso beeindruckender. Seit Beginn des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 hat Polina Buhrova ihren Vater und ihren Bruder nicht mehr gesehen, erzählt sie. Die Familie lebte in Charkiw, doch wegen der fortschreitenden Zerstörung der Stadt durch russische Bomben seien die beiden inzwischen in eine weniger gefährliche Region in der Ukraine umgezogen. Wohin genau, verrät sie nicht. Die Mutter lebt in Kaunas, Litauen, dort schlüpft Polina Buhrova in Spielpausen immer mal wieder unter. Die Halle an ihrem Badmintonstützpunkt in Charkiw sei durch russische Raketen schwer beschädigt. "Auf Initiative des ukrainischen Badmintonverbandes können seine Auswahlspielerinnen und -spieler bei anderen Nationalkadern in Europa mittrainieren", erklärt Blonck. Diese sorgten für kostenlose Unterbringung und Verpflegung. So trainierte Buhrova im vergangenen Sommer etwa in Italien, Spanien und auf Einladung ihres jetzigen Neuhauser Teamkollegen Ivan Rusev drei Wochen in Bulgarien. Seitdem tourt sie weiter ohne feste Bleibe durch Europa und die ganze Welt.

Vereinsmäßig fühlt sie sich beim TSV Neuhausen-Nymphenburg gut aufgehoben, sagt sie, lobt den Teamgeist, sowie eine "tolle Erfahrung". Und doch merkt man ihr an, wie sehr sie die Lage ihrer Familie und ihrer Heimat belastet. Offenbar so sehr, dass sie das Gefühl der Ohnmacht, die Angst und Unsicherheit ausblendet, zum Selbstschutz, und sich nur auf das konzentriert, was sie beeinflussen kann: ihre sportliche Entwicklung. Für die steckt sie sich ein mehr als ehrgeiziges Ziel: "Ich will die Nummer eins der Welt werden."

Neuhausens Ex-Spielerin Natalya Voytsekh harrt nach dem Karriereende in Dnipro aus. Buhrova steht erst am Anfang, für sie war Bleiben keine Option

Polina Buhrova ist nicht die einzige Verbindung des TSV in die Ukraine. Viele Jahre lang hat die inzwischen knapp 30-jährige Natalya Voytsekh für den Münchner Verein verlässlich Punkte geholt, ihn seit dem Aufstieg 2014 immer wieder zum Klassenerhalt geführt und einmal (2017) zum Wiederaufstieg. Voytsekh, die ihre Profilaufbahn 2021 beendete, lebt mit ihrem Mann und dem im April vergangenen Jahres geborenen Sohn noch immer in ihrer Heimatstadt Dnipro südlich von Charkiw, allen Gefahren und Widrigkeiten zum Trotz. Dem Vernehmen nach sind sie von russischen Angriffen bisher verschont geblieben, ihr Ehemann musste auch noch nicht zum Dienst an die Waffe. Ihr ehemaliges Team hält nach wie vor engen Kontakt.

Für Polina Buhrova, die erst am Anfang ihrer Karriere steht, war Bleiben keine Option. Gemessen an der Weltrangliste ist sie auf ihrem schwierigen Weg im Exil jetzt schon erfolgreicher als Voytsekh, deren beste Platzierung Rang 120 war. Zum Rückrundenauftakt hat sie wieder gewonnen, wieder auswärts. Am Ende unterlag ihr Team 3:4 gegen Dortelweil - was immerhin einen wertvollen Punkt brachte beim Tabellenzweiten. Nach gutem Start ist der TSV auf den vorletzten Platz abgerutscht. Umso mehr hoffen die Fans für das nächste Heimspiel am kommenden Sonntag, dem Rückspiel gegen Refrath, auf Erfolge ihres international beschäftigten Teenagers. Darauf, dass der zaghaften Frage auch daheim nun eine selbstbewusste Antwort folgt: "Hier ist Buhrova!"

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