Italienische Nationalmannschaft:Pforzheimer Junge mit Pirlo-Trikot

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Sie nennen ihn Oriundo Tedesco, ähnlich wie südamerikanische Spieler mit italienischen Wurzeln: Doppeltorschütze Vincenzo Grifo (re.). (Foto: Gribaudi/imago)

Seit mehr als zwei Jahren sind die Azzurri ungeschlagen - Trainer Roberto Mancini experimentiert ständig. Beim Sieg gegen Estland überrascht der in Deutschland aufgewachsene Vincenzo Grifo.

Von Oliver Meiler, Rom

Vielleicht muss man die Bedeutung von Charisma einmal etwas relativieren - von dieser angeborenen Aura, die einen Leader so sagenhaft umweht, dass alle rundherum inspiriert, eingeschüchtert, jedenfalls beeindruckt sind. Braucht sie wirklich Präsenz? Von Roberto Mancini, dem Commissario tecnico der italienischen Nationalmannschaft, heißt es, er habe tonnenweise Charisma. Sein Erfolg als Trainer liefert den statistischen Beleg.

Seit mehr als zwei Jahren - oder zwanzig Spielen - sind die Azzurri ungeschlagen. Und das ist vor allem deshalb recht bemerkenswert, weil Mancini seit seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren fast jeden Italiener mitspielen ließ, der einem Ball etwas abgewinnen kann. Er experimentiert ständig, setzt auch Spieler ein, die gerade keinen Stammplatz haben, und solche, an die niemand vor ihm gedacht hatte. 32 gaben in seiner Amtszeit ihr Debüt. Das klappt nur, wenn einer Aura hat.

Nun saß Mancini beim Freundschaftsspiel gegen Estland am Mittwochabend aber mit Covid-19 auf dem Sofa in seiner Wohnung in Rom und steuerte alles aus der Ferne - am Telefon. "Tele-Poker", schreibt die Gazzetta dello Sport, wobei Poker natürlich ein etwas schiefes Bild ist gegen die Nummer 107 im Ranking der Fifa: Estland spielte mit seinen Besten, um einer "kolossalen Peinlichkeit" vorzubeugen, wie es ihr Coach vor der Begegnung gesagt hatte, war aber in keiner Weise auf der Höhe der Aufgabe.

"Ferngesteuertes Italien"

Italien gewann 4:0, wie es sich gehört. Interessanter noch als das Spiel war aber die Nachverfolgung der Kommandokette, vom Sofa in Rom auf den Rasen des Stadio Artemio Franchi in Florenz. Mancini war im ständigen Kontakt mit zwei Leuten vor Ort, nämlich mit seinem Assistenten Fausto Salsano, der das Spiel von der Tribüne aus verfolgte, aus der Höhe also, und mit Gianluca Vialli auf der Spielerbank, seinem früheren Kameraden zu Aktivzeiten bei Sampdoria Genua und nun Delegationschef der italienischen Nationalmannschaft. Beide mit Knopf im Ohr. Vialli redete parallel auch noch mit Salsano und gab dann die Instruktionen des Chefs auf dem Sofa zuhause weiter an Alberico "Chicco" Evani, den Vize Mancinis, der an dessen Stelle am Spielfeldrand stand.

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So kam das Wort des Commissario im Home-Office zu den Spielern - ohne Blicke, ohne Stimmfarbe, ohne Charisma, nur nackte Anweisungen. "Italia telecomandata", schreibt der Corriere della Sera, ferngesteuertes Italien.

Matchwinner war eine von Mancinis Entdeckungen: Vincenzo Grifo, Mittelfeldspieler vom SC Freiburg, 27. Geboren in Pforzheim, Vater Sizilianer, Mutter Apulierin, vierter Einsatz für Italien. Grifo traf gleich zwei Mal: einmal mit sattem Distanzschuss aus zwanzig Metern, einmal per Elfmeter. Der Trainer mag ihn sehr, und Grifo mag den Trainer.

In der Euphorie nach dem Spiel sagte er: "Ich spiele zwar dort ( in Deutschlan d, Anm.), aber mein Herz schlägt zu hundert Prozent für Italien." Nachdem andere Stürmer wiederkehren, so der Verband auf Twitter, werde Grifo zunächst aber wieder zu seinem Klub zurückreisen.

Italiens Presse nennt ihn dennoch bereits einen "Oriundo tedesco" - Oriundo, so nennt man normalerweise Südamerikaner mit mehr oder weniger vagen Verwandtschaften in Italien, die weit weg aufwachsen, fast ohne Beziehung zur Heimat ihrer Vorfahren, und dann wegen ihres überdurchschnittlichen Talents interessant werden für die Azzurri. Der Brasilianer José Altafini und der Argentinier Omar Sívori waren wohl die berühmtesten. Grifo stand Italien immer näher, geografisch und emotional. Als er dann zum ersten Mal aufgeboten wurde und ihn in Italien noch niemand kannte, erzählte er den italienischen Medien eine schöne Geschichte, die ihm alle Herzen öffnete. In jener Sommernacht 2006, als Italien in Deutschland Weltmeister wurde, habe er mit seinen Freunden bis in die Morgenstunden gefeiert, sagte er. Er war damals 13, am Leib trug er das Trikot von Andrea Pirlo.

Estland war eine andere Nummer. Für Italien aber war der Sieg wichtig. Man ringt noch um eine bessere Platzierung im Ranking der Fifa, damit man dann am 7. Dezember, wenn in Zürich die Gruppen für die WM in Katar 2022 ausgelost werden, in den ersten Topf kommt.

Dennoch gab es auch viel Kritik an dem Freundschaftsspiel - war es wirklich nötig? In diesen Zeiten dann noch? Vor allem die Vereine der Serie A sind genervt, sie fühlen sich ausgepresst. Fast in jedem Klub gibt es Corona-Fälle, alte und neue, auch prominente. Manche Mannschaften stecken in der Quarantäneblase. Mancini musste fast fünfzig Spieler aufbieten, um dann am Ende eine Elf zusammenzubringen, die einigermaßen den Standards entspricht. Nur ein Stammspieler war von Beginn an dabei: Emerson Palmieri dos Santos, 26, geboren in Santos, Brasilien, vor zwei Jahren eingebürgert, ein Oriundo aus der Ferne.

© SZ vom 13.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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