Süddeutsche Zeitung

Australian Open:Mülltonnentag in Melbourne

Lys, Korpatsch, Otte, Altmaier, Niemeier, Hanfmann: Kein deutscher Profi übersteht am Auftakttag der Australian Open die erste Runde. Chancen hatten fast alle, doch in den engen Phasen zeigt sich: Die Gegner sind furchtloser.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Die 111. Auflage der Australian Open begann um 11 Uhr an diesem Montagvormittag, jedes Mal ist es faszinierend zu erleben, wie diese monströse Veranstaltung am Yarra River hochgefahren wird. Das passiert nicht behutsam. Das geht von null auf hundert. Sobald die Schranken öffnen, strömen die Menschen auf die weitläufige Anlage, fluten die Wege, keine Stunde später haben sich alle wie Arbeitsbienen verteilt.

Die einen steuerten diesmal gleich die neue Beach Bar an, andere spielten Tischtennis, maßen in einem Käfig die Geschwindigkeit ihres Aufschlages, verschwanden in Shops - natürlich aber herrschte das größte Gedränge rund um die drei großen Stadien, die drei mittelgroßen Arenen sowie um sämtliche kleineren Plätze, die so heißen, weil sie weniger Sitzplätze auf den Tribünengerüsten bieten.

Wer sich nicht rasch genug einen Fleck sicherte, musste sich in einer der Schlangen einreihen, die vor allem bei den Partien der populären Profis sofort entstanden, wobei fast jeder Spieler populär ist. Das Publikum im Einwanderungsland Australien ist besonders international, was auch an der Kleidung vieler sichtbar wird.

Horden von Australiern trugen die obligatorischen Rugby-Shirts, ein Schwede erschien mit gelber Kappe samt Elchgeweih, die Deutschen blieben wie immer beim Fußballtrikot mit schwarz-rot-goldenen Verzierungen. Kurz auf den Plan geschaut, ah, Eva Lys auf Court 6 - schon war dieser kleine Platz mehrheitlich in deutscher Hand.

Die Stimmung beim ersten Grand-Slam-Hauptfeld-Match der 21-jährigen Hamburgerin in ihrer Karriere war erst mal verhalten, was umso mehr auffiel, weil nebenan, auf Court 8, Partyatmosphäre herrschte. "Aussie, Aussie, Aussie, oi, oi, oi", schallte es rüber. Olivia Gadecki, ein 20 Jahre altes Talent von der Gold Coast, spielte dort und siegte.

Immerhin stimmt bei den meisten Deutschen die kritische Analyse

Lys, die wie ihre Gegnerin Cristina Bucsa, 25, aus Spanien über drei gewonnene Qualifikationsmatches die erste Runde erreicht hatte, erlebte dagegen ein Spiel, aus dem sie viel lernen wird. Sagte die 21-Jährige selbst. Lys verlor 6:2, 0:6, 2:6, aber sie hinterließ doch den Eindruck, dass sie nun den nächsten Schritt geschafft hat. Die ziemlich beste Freundin von Jule Niemeier kletterte in den vergangenen drei Jahren stetig in der Weltrangliste, 126. ist sie derzeit, sie sagt von sich: "Ich fühle mich sehr selbstbewusst auf dem Platz, ich weiß, was für ein Potenzial ich habe." Ihr rhetorischer Auftritt lässt erahnen, dass da wirklich eine robuste Persönlichkeit heranreift, auch wenn sie nur 1,65 Meter groß ist.

Lys ist mit Vater Wladimir in Melbourne, der ein vorzüglicher Spieler war und einst für die Ukraine antrat, sein Heimatland. Als Eva zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Deutschland. Sie bestand das Abitur mit Bravour, seitdem ist Tennis ihr Leben. Sie spielte auch gegen Bucsa beeindruckend aggressiv, doch dann verließ sie etwas die Angriffslust, Handgelenksschmerzen plagten sie zusätzlich.

Verblüffend war, wie aufgeräumt sie ihre Niederlage analysierte, als sei sie eine Wissenschaftlerin. "Das ist heute nicht am Tennis gescheitert, sondern an den Umständen", solche Sätze sagte sie. Oder diesen: "Ich bin leider auch nur ein Mensch, ich bin kein Roboter."

Oscar Otte schimpft: "Ist teilweise echt ätzend, der Sport, muss man sagen."

Parallel zu Lys hatte Tamara Korpatsch ihr Match gegen die Britin Emma Raducanu begonnen. Die 27-Jährige aus Hamburg, als 76. der Weltrangliste respektabel platziert, verlor 3:6, 2:6 gegen die US-Open-Gewinnerin von 2021. Anders als Lys war sie vollkommen ernüchtert, die Atmosphäre auf dem Platz sei zwar schön gewesen, leider habe sie sich unwohl gefühlt, sie habe gar ihr "schlechtestes Tennis" gespielt, meinte sie sich geißelnd, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Vielleicht lag es am neuen Schläger, den sie spielt, vielleicht an Schulterproblemen, sie rätselte über so manches. Fast machte man sich Sorgen um sie, so düster klang sie.

Niederlagen zu deuten, das macht jeder eben auf seine Weise, Oscar Otte war der Nächste, der sich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen hatte. Der 29-Jährige aus Köln scheiterte am chinesischen Qualifikanten Shang Juncheng mit 2:6, 4:6, 7:6 (2), 5:7, der 17-Jährige bewies, dass er zu Recht als Talent hoch gehandelt wird, die Vorhand des Linkshänders erinnert an die des österreichischen Paris-Siegers Thomas Muster. Otte hielt das nicht davon ab, die Schuld vor allem bei sich zu sehen. "Ich stand da gefühlt wie 'ne Mülltonne auf dem Platz und hab's überhaupt nicht hinbekommen, da mal einen vernünftigen Return reinzuspielen, mit der Rückhand vor allen Dingen", polterte er.

Jule Niemeier verpasst eine Überraschung auf dem Center Court

Otte hatte 2022 einen rasanten Aufstieg erlebt und den 36. Weltranglistenplatz ergattert; derzeit ist er auf Rang 74. Er hatte mit seiner direkten, bodenständigen Art gerade bei deutschen Turnieren viele Sympathien gewonnen. "Ist teilweise echt ätzend, der Sport, muss man sagen. Aber ich lieb's trotzdem und bleib dran", solche Sätze kriegt nur er so schön hin. Rheinländer halt.

Dieser Tag, der mit 14 Grad startete und die 31 Grad erreichte, so ist das Wetter in Melbourne, wurde aus deutscher Sicht partout nicht besser. Die Liste der unterlegenen Vertreter des DTB wurde gar länger und länger. Was sich abzeichnet, ohne Angelique Kerber (schwanger), ohne Andrea Petkovic, Julia Görges und Philipp Kohlschreiber (Karrieren beendet): Theoretisch gibt es nach wie vor einen Kreis an deutschen Profis, die bei Grand Slams auch mal die eine oder andere Runde gewinnen können. Praktisch aber lässt sich das nicht mehr allzu verlässlich vorhersagen, wem das gelingt.

Daniel Altmaier, der Schwungästhet aus Kempen, mit einer Tommy-Haas-haften einhändigen Rückhand ausgestattet, zählt zu diesem Kreis - er wehrte sich auch vehement gegen Frances Tiafoe, die Nummer 16 der Setzliste, aber der in ungewöhnlichem Outfit erschienene Amerikaner setzte sich mit 6:3, 6:3, 6:7 (5), 7:6 (6) durch.

Jule Niemeier, die Wimbledon-Viertelfinalistin aus dem Vorjahr, hätte in der Abendpartie auf dem Center Court gegen die Weltranglistenerste Iga Swiatek mindestens den dritten Satz erreichen können - die Westfälin spielte viele gute Punkte, und bei 5:4 schlug sie zum Satzgewinn auf. Doch just in dieser Phase spielte sie zu sehr Verwaltungstennis, die Polin schaltete sofort in den Wirbelwind-Modus und gewann 6:4, 7:5. Der DTB sollte mal ein internes Seminar anbieten, mit dem Schwerpunktthema: Wie setze ich mich in engen Phasen durch? Niemeier erkannte ja auch: "Bei den Topspielern ist es so, dass sie in den engen Momenten noch mal besser spielen und 'ne Schippe drauflegen."

Der nette Yannick Hanfmann schließlich, ein 31-jähriger Karlsruher, sollte sich gleich auch für die Schippen-Schulung anmelden, denn er war: wieder zu nett. Souverän hatte er sich eine 2:0-Satzführung erarbeitet. Doch er ließ den Australier Rinky Hijikata zurück ins Match, der ekstatisch auf dem kleinen Platz 8 von gesangsfreudigen Anhängern angetrieben wurde. Hanfmann verlor 6:4, 6:4, 3:6, 6:7 (5), 3:6. Damit war die sechste deutsche Pleite perfekt. "Nervt. O:6. Natürlich ist das kacke", resümierte Hanfmann diese Bilanz. Am Dienstag liegt es an Alexander Zverev, Jan-Lennard Struff, Tatjana Maria und Laura Siegemund, wenigstens etwas Linderung herbeizuführen.

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