Kyrgios-Absage für die Australian Open:"Ich bin am Boden zerstört"

Kyrgios-Absage für die Australian Open: Sichtlich enttäuscht, aber auch sehr realistisch in seinen Erklärungen: Nick Kyrgios verkündet seinen Verzicht bei den Australian Open.

Sichtlich enttäuscht, aber auch sehr realistisch in seinen Erklärungen: Nick Kyrgios verkündet seinen Verzicht bei den Australian Open.

(Foto: Mark Baker/dpa)

Nick Kyrgios muss im letzten Moment auf einen Start in Melbourne verzichten. Das ist - für beide Seiten - ein schmerzvoller Schritt. Aber er will wiederkommen.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne

Pressekonferenzen bei den Australian Open und generell im Tennis werden immer mit Vorlauf angekündigt, die Berichterstatter sollen genügend Zeit haben, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Überfallartig einberufene Pressekonferenzen sind daher schon bei ihrer Ankündigung ein Indiz dafür, dass etwas Außergewöhnliches zu verkünden sein wird, und wenn dann die Mitteilung in Großbuchstaben formuliert wird, werden die Schritte der Reporter gleich noch mal schneller.

"NICK KYRGIOS ON WAY TO MAIN ROOM NOW", hieß es um 15.50 Uhr Ortszeit an diesem Montag, dem ersten Turniertag der Grand-Slam-Veranstaltung in Melbourne, schon da war klar: Der Australier dürfte gleich seinen Rückzug bekannt geben, was sonst sollte er sagen? Dass er die neue Netflix-Serie "Break Point", eine Dokumentation über die Tour im vergangenen Jahr, in der er eine tragende Rolle spielt, toll findet? Hatte er ja zuletzt schon jeden Tag verkündet, quasi auch in gesprochenen Großbuchstaben. Dass sein Show-Trainingsmatch mit Novak Djokovic, das er am Freitag in der Rod Laver Arena ausgetragen hatte, in nur 58 Minuten ausverkauft war? Hat er auch schon dauernd hervorgehoben. Kurz darauf bestätigte er das Befürchtete: "Es ist brutal und ein einfach schlechtes Timing", sagte Kyrgios: "Ich bin am Boden zerstört. Es ist mein Heim-Grand-Slam." Eine Knieverletzung zwinge ihn aber zu diesem Verzicht.

Kyrgios hatte seinen Physiotherapeuten Will Maher mitgebracht, der versuchte, medizinisch alles gut zu erklären. Eine Zyste, infolge eines kleinen Risses im Meniskus entstanden, mache den Start des 27-Jährigen unmöglich, übermittelte Maher und betonte aber auch: So schlimm sei die Verletzung nicht, dass dessen Karriere gefährdet sei. Kyrgios selbst versicherte, er wollte bis zum letzten Moment abwarten, doch das Pochen im Knie sei einfach nicht verschwunden. Er klang enttäuscht, das schon, aber auch realistisch und klar. Er sei sich sicher, dass er wiederkomme und jenes Tennis spiele, das er vor allem 2022 gezeigt habe. Er lamentierte nicht.

Bei Twitter pöbelte Kyrgios zuletzt den früheren Profi Noah Rubin an, dann sammelte er Geld für eine Stiftung ein

Für die Australian Open ist das Fehlen von Kyrgios mindestens ebenso schmerzvoll, allein die vergangene Woche hatte wieder bestätigt, wie viel Aufmerksamkeit und Interesse dieser eigenwillige und hochtalentierte Spieler generieren kann. Er bot Anlass für mehr Schlagzeilen, als es viele andere Kollegen binnen einer Saison schaffen. Bei Twitter pöbelte Kyrgios den früheren Tennisprofi Noah Rubin an, weil der ein paar kritische und durchaus intelligente Anmerkungen zu der Netflix-Serie geäußert hatte.

Wie ein PR-Sprecher huldigte er dann wiederholt Djokovic für dessen Leistungen und Wesen. Früher hatte er den Serben noch selbst attackiert. Djokovic sei besessen davon, Anerkennung zu erhalten, hatte er vor Jahren gespottet. Irgendwann hat Kyrgios offenbar begriffen, dass sie einander ähnlicher sind, als er dachte, und als Djokovic im vorigen Jahr direkt vor dem Turnierstart die Australian Open und den Kontinent per Gerichtsbeschluss verlassen musste, weil er nicht gegen Corona geimpft war (und weiterhin nicht ist) und die damals geltenden Einreisebedingungen nicht erfüllt hatte, sprang Kyrgios ihm bei und schimpfte über seine Heimat mit deftigen Worten. Austeilen kann er gut.

Bemerkenswert indes war, wie Kyrgios 2022 die Ernsthaftigkeit als Profi auf dem Platz in sich entdeckte. Er bemühte sich tatsächlich erstmals in seiner bereits erfolgreichen Karriere, sportlich an Grenzen zu gehen. Fast wurde er mit dem Wimbledon-Triumph belohnt. Es war Djokovic, der ihn im Finale dann stoppte. Auch im All England Club warf der Unterlegene dem Serben reihenweise Komplimente zu. Als Bromance wird ihre Beziehung seitdem bezeichnet; der Begriff setzt sich aus den englischen Wörtern brother und romance zusammen.

Kyrgios feiert sich gerne selbst für Taten. Das nervt mitunter - aber er hat ja recht

Man kann sich an der permanenten Selbstbeweihräucherung von Kyrgios stören, der selten eine Gelegenheit auslässt, um auf eigene Verdienste hinzuweisen. Er sei es etwa gewesen, der mit dem Trainingsmatch gegen Djokovic viel Geld, nämlich rund 300 000 australische Dollar, für die Stiftung des australischen Verbandes organisiert habe. 20 Dollar kosteten die Tickets für die Partie am Freitag, die 15 000 Karten waren binnen einer Stunde weg.

Kyrgios feiert sich auch gerne dafür, dass er - abgesehen von den Größen Djokovic, Rafael Nadal und dem nicht mehr aktiven Roger Federer - die größte Gefolgschaft in den sozialen Medien genieße. Auch das kann man selbstgefällig finden. Aber er hat ja recht damit. Gerade die Jugend spricht er an und hat so dem Tennis ganz neue Schichten zugeführt. Dass er gerne und oft polarisiert, manchmal offensichtlich auch aus Trotz, wird ihm vor allem dann nachgesehen, wenn er mal wieder seine unfassbar große Tennisbegabung auf dem Platz demonstriert.

Erst vor wenigen Tagen hatte Kyrgios angekündigt, er wolle sofort seine Karriere beenden, sollte er eines Tages ein Grand-Slam-Turnier gewinnen: "zu 100 Prozent" trete er dann ab. Tennis sei nicht alles für ihn. Zumindest an diesem Montag war das dann die gute Nachricht: Kyrgios hört noch nicht auf. Irgendwie passt dieses überraschende Aus bei den Australian Open zu seinem Weg. Für erwartbare Dinge sind andere zuständig.

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