Sportler werden nur selten gefragt, wo sie im wahnwitzigsten Moment ihrer Laufbahn gewesen sind. Die Antworten sind bekannt: Max Schmeling war 1936 im Yankee Stadium von New York, Helmut Rahn 1954 in Bern im Hintergrund, Wilfried Dietrich lag beim Olympiaringkampf 1972 in München auf Chuck Taylor. Bei Eva Lys musste man am Dienstag nachfragen, weil das Geschehen so ungewöhnlich war. Wenn man sich die Geschichte ausdächte, würde einen jeder auslachen, weil sie derart verrückt klingt; deshalb die Antwort gleich vorneweg: auf der Massagebank.
Auf der Massagebank also erfuhr die deutsche Tennisspielerin, dass sie doch noch ins Hauptfeld der Australian Open gerutscht war – jedoch in weniger als 20 Minuten auf den Platz müsse zur Erstrundenpartie gegen die Australierin Kimberly Birrell. „Ich hatte schon gehört, dass es manchmal chaotisch sein kann, aber so was habe ich noch nicht erlebt“, sagte Lys später: „Es war absolutes Chaos – und deshalb das Beste, was mir passieren konnte!“

Frauen-Tennisbundestrainer Beltz im Gespräch:„Wir brauchen den Schmetterlingseffekt“
Motivator und Helfer in allen Lagen: Der neue Bundestrainer Torben Beltz erlebt bei den Australian Open die Besonderheiten des Tennissports – er erzählt von Schlüsselmomenten mit Angelique Kerber, der Wirkung von Körpersprache und seiner Vision.
Es war so: Lys war in der Qualifikation für die Australian Open gescheitert, als sogenannte Lucky Loserin blieb aber noch eine kleine Chance auf die Teilnahme. Wegen ihres Rankings (Nummer 128 der Weltrangliste) gehörte sie zu den vier Spielerinnen, deren Name in einen Lostopf geworfen wurde – sie kam auf Platz drei. Die Kollegin Petra Martic, die ebenfalls zum Quartett gehörte, erfuhr zwei Tage vor Turnierbeginn, dass sie dabei sein würde, Harriet Dart am Montagmorgen vier Stunden vor Spielbeginn ihrer Partie. Bei Lys war es noch knapper: Die Russin Anna Kalinskaja meldete sich am Dienstag in genau dem Moment ab, als Matteo Berrettini gerade zum Sieg in der viertgrößten Arena der Anlage aufschlug. „Ich habe eine SMS gekriegt“, sagte Lys über diesen Moment auf der Massagebank: „Die habe ich jedoch ignoriert – meine Mama schreibt mir ja auch so oft.“ Dann sei die Durchsage gekommen – und in ihrem Kopf Panik ausgebrochen: „Ich wusste nicht mehr, wie man eine Hose anzieht. Ich habe erst eine Socke angezogen, dann das T-Shirt, dann die andere Socke, dann die Hose.“
Der Tumult sei allerdings hilfreich gewesen: Sie sei ein Kopfmensch, der gelegentlich zu viel nachdenke. Dafür blieb nun keine Zeit, es musste ja schnell gehen. Ihr Vater und Trainer Wladimir, der nach der Niederlage in der Quali nach Hause reisen musste, habe ihr die unvergessene Beckenbauer-Philosophie mitgeteilt: „Er sagte: Geh raus und hab Spaß! Du bist eine Lucky Loserin, du könntest schon daheim sein. Es gibt keine Erwartungen.“
Auch die Gegnerin von Lys, Kimberly Birrell, war von den Ereignissen überrumpelt
Geholfen habe auch Bundestrainer Torben Beltz mit seinem grenzenlosen Optimismus: „Er hat die letzten Tage ohnehin so getan, als würde ich ganz sicher spielen.“ Auch deshalb habe sie sich entsprechend verhalten: also Training am Morgen, kurz zurück ins Hotel, rechtzeitige Rückkehr auf die Anlage. Aufwärmen, dann zum Physio auf die Pritsche – da kam dann auch die Nachricht: „Es haben dann alle geholfen: Getränke gemischt oder mir später Sushi auf den Platz gebracht; ich hatte ja noch gar nichts gegessen.“
Kontrolliere das Kontrollierbare, heißt es oft im Sport. Das hatte Lys getan. Sie war vorbereitet auf das Chaos. Und man darf nicht vergessen, dass auf der anderen Seite des Netzes eine Spielerin stand, die auch erst einmal mit dieser Situation umgehen musste, mit einer Gegnerin, auf die sie nicht vorbereitet war. „Es hat mich ganz schön aus der Bahn geworfen“, räumte Kimberly Birrell anschließend ein. Lys sagte, dass sie schon bemerkt habe, wie nervös die Australierin gewesen sei: „Das habe ich ausgenutzt. Ich glaube, das Wichtigste in diesem Sport ist es, spontan zu bleiben. Du weißt oft nicht, was ein Tag bringt; du kannst Hotel und Flüge nicht fest buchen. Du kannst nie sagen: Oh, übermorgen, da habe ich aber eine unglaubliche Chance – die kommt einfach, und dann musst du sie ergreifen.“
Genau das tat Lys. Sie fand diese perfekte Mischung aus Adrenalinkick und Entspannung und hatte 70 Minuten lang einfach Spaß. Sie erlaubte Birrell nur vier Gewinnschläge (sie selbst schaffte 20) und provozierte 37 Fehler der Gegnerin. „Das war ihr bestes Match seit langer Zeit“, sagte Beltz danach im Gespräch mit der SZ. Der Trainer weiß aus Erfahrung, dass ein wahnwitziger Moment, ein Adrenalinschub eine Akteurin zur rechten Zeit auf eine Welle heben kann, die sie an unerwartete Orte treibt: 2016 hatte die von ihm betreute Angelique Kerber in der ersten Runde einen Matchball abwehren müssen, ehe sie dann die Australian Open gewann.
So weit denkt Lys nach dem 6:2, 6:2 nicht. Weil sie aber im Tableau nun die Position der an 13 gesetzten Kalinskaja einnimmt und die an Position 21 gesetzte Wiktoria Asarenka aus Belarus verlor, kann sie frühestens im Achtelfinale auf eine gesetzte Spielerin treffen – manchmal läuft es eben beim Unkontrollierbaren. Lys weiß aber auch, dass sie in der zweiten Runde erst einmal gegen die Französin Warwara Gratschowa bestehen muss. Wie? Sie hätte da eine Idee: „Ich bin immer noch eine Lucky Loserin. Vielleicht sollte ich mich nicht vorbereiten, das Chaos genießen und einfach Spaß haben.“ Sie weiß jedenfalls, wo sie am Donnerstag sein wird: auf dem Platz und nicht auf der Massagebank.