Süddeutsche Zeitung

Australian Open:Mach es wie Djokovic!

Lesezeit: 3 min

Aussichtslos in Rückstand, fragt sich Daniil Medwedew auf dem Platz: "Was würde Novak tun?" Der Russe dreht dann dramatisch das Viertelfinale gegen Felix Auger-Aliassime.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne/München

Matchball. Jetzt fehlte Felix Auger-Aliassime nur noch der eine Punkt. Dann stünde er, 21 Jahre alt, aus Montreal, der Vorzeigeprofi des kanadischen Tennisverbandes, der ihn sein halbes Leben lang gefördert hatte, im Halbfinale der Australian Open. Dass Auger-Aliassime derart weit bei Grand-Slam-Turnieren vorstoßen kann, ist keine Neuigkeit mehr. 2021 hatte er das Viertelfinale in Wimbledon erreicht und das Halbfinale bei den US Open. Neunter der Weltrangliste ist er. An diesem Mittwochabend in Melbourne führte Auger-Aliassime 7:6 (4), 6:3, 6:7 (2), 5:4 - und 40:30.

Dann schlug Daniil Medwedew einen seiner härtesten Aufschläge bis dahin. Weit über 200 Stundenkilometer schnell war der Ball. Einen zweiten Matchball sollte Auger-Aliassime nicht erhalten. Dabei hatten sie 4:42 Stunden gespielt. Eine Ewigkeit.

Nachdem Medwedew, die Nummer zwei der Welt, der US-Open-Champion, an dem Auger-Aliassime schon vor vier Monaten in New York gescheitert war, die letzten beiden Sätze mit 7:5 und 6:4 gewonnen hatte und der enttäuschte Verlierer aus der bebenden Rod Laver Arena geschlichen war, legte der Russe beim Platz-Interview ein skurriles Geständnis ab. Er erklärte, wie er die Niederlage abgewendet hatte. "Ich weiß nicht, ob die Leute das mögen, aber ich sagte mir selbst: Was würde Novak machen?" Tatsächlich buhten einige. Die Reaktion nahm Medwedew lachend entgegen. So hat also auch Novak Djokovic, der Weltranglisten-Erste und neunmalige Sieger in Melbourne, der nach der wilden Visum-Affäre das Land noch vor dem ersten Tag der Australian Open hatte verlassen müssen, spät noch Einfluss aufs Turnier genommen. Diesmal ist er aber zu hundert Prozent unschuldig involviert gewesen.

Es war, als hätte Medwedew sein eigentliches Ich abgestreift

Die Anekdote, die Medwedew da so belustigt erzählt hatte, hatte fürwahr zu einem erstaunlichen Ergebnis geführt. Plötzlich rannte er bedingungslos, maulte (fast) nicht mehr, es war, als hätte er sein eigentliches Ich abgestreift. "Ich dachte, er muss das schon selbst gewinnen." Keinen Punkt wollte Medwedew dem lange furios aufspielenden Auger-Aliassime schenken. Do it like Novak! Und so, das stellte der Russe zurecht fest, kippte "das Momentum". Er ist nun der Erste, der bei diesen Australian Open einen 0:2-Satzrückstand aufholte. Medwedew ist zäh.

Ein Finale der zwei verbliebenen Favoriten ist somit möglich. Der Spanier Rafael Nadal, 35, trifft am Freitag im Halbfinale auf den Italiener Matteo Berrettini, 25. Medwedew duelliert sich, wie vor einem Jahr im Halbfinale, mit Stefanos Tsitsipas, 23, der sich in einem unerwartet einseitigen Match gegen den Südtiroler Jannik Sinner, 20, durchsetzte und dabei präzise wie ein Chirurg mit dem Skalpell agierte. Für den 6:3, 6:4, 6:2-Erfolg benötigte er nur 2:06 Stunden. "Wie er die Bälle traf, war absolut perfekt", ordnete der dreimalige Melbourne-Sieger Mats Wilander bei Eurosport ein.

Tsitsipas legte schließlich auch ein kleines Geständnis ab. Er sei durchaus überrascht, dass er es überhaupt nach Australien geschafft habe. Und auch, dass er so gut spiele und nun in seinem fünften Grand-Slam-Halbfinale stehe. Sein Arzt, ein "Dr. Frank", wie er berichtete, hatte ihm vor Wochen wenig Hoffnung auf einen Start in Melbourne gemacht. Tsitsipas hätte aber schneller als gedacht eine Ellbogenverletzung auskuriert. Fast verschüchtert erzählte er diese Begebenheit. Der als Nachdenker bekannte Topspieler dachte mal wieder viel nach an diesem Abend.

Seiner jüngsten Verletzung gewann der demütige Stefanos Tsitsipas sogar Gutes ab

An Djokovic dachte er indes nicht, dafür an Demut. Nur weil er vielleicht sein zweites Grand-Slam-Finale erreichen könnte - im vergangenen Jahr verlor er erst im Endspiel der French Open gegen Djokovic -, wolle er nicht übermütig werden. "Wenn du tanzt und es gut läuft, tendierst du dazu, dich selbst zu glorifizieren", sprach Tsitsipas. "Es ist wichtig in diesem Prozess, auf dem Boden zu bleiben und dich daran zu erinnern, dass du ein Mensch bist, der nach Großem strebt." Das könne ihm aber nur gelingen, wenn er "alles Mögliche" versuche. Seiner Verletzung, auch anderen davor, gewann er daher sogar Gutes ab - sie hätten ihn "viele Dinge gelehrt", zum Beispiel, "wie man wartet und geduldig bleibt und sich besser vorbereitet".

Für die Dramaturgie des Turniers ist das natürlich hervorragend, dass Tsitsipas und Medwedew aufeinandertreffen. Sie sind nicht die besten Freunde, wenngleich sich das Verhältnis entspannt hat. "Es wurde besser seit dem Laver Cup", gab Tsitsipas zu; er meinte den Showwettbewerb im vergangenen Jahr in Boston. Viel gesprochen hätten sie in den vergangenen Monaten nicht, aber sie beide verbinde "das Kämpfen um denselben Traum". Die Wege bis zur Erfüllung können allerdings sehr verschieden sein. Die Gedanken sind frei. Auch in Tennisstadien.

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