Außenseiter Island:Beim Barte des Aron Gunnarsson

Iceland v Austria - Group F: UEFA Euro 2016

"Wenn ich meinen Mitspieler ansehe, weiß ich, dass er sich aufopfert, um meine Fehler auszubessern, und ich mache dasselbe für ihn": Aron Gunnarsson aus Akureyri am Eyjafjord.

(Foto: Shaun Botterill/Getty Images)

Erst war er Handballer und nun laut seinem Trainer einer der besten Mittelfeldspieler der Welt - ohne Ball. Aron Gunnarsson ist das Wikinger-Gesicht der Isländer. Eine Suche in seiner Vergangenheit.

Von Claudio Catuogno, Annecy-le-Vieux

Den Bart, vor dem sich gerade die Fußballwelt fürchtet, hat sich Aron Gunnarsson schon einmal wachsen lassen. Damals ist aber nur sein Bruder vor Entsetzen zusammengezuckt. Es muss im Jahr 2013 gewesen sein, Aron Gunnarsson aus Akureyri, Nordisland, war mit Cardiff City in die englische Premier League aufgestiegen, er spielte mit seiner walisischen Unterklassentruppe jetzt nicht mehr gegen Huddersfield und Wolverhampton, sondern gegen Manchester und Liverpool. Engländer erschrecken, das war quasi damals wie heute Aron Gunnarssons haariges Leitmotiv.

Aber Arnor Thor Gunnarsson, der anderthalb Jahre ältere Bruder, sagte: "Ich mag den nicht." Also hat sich Aron das fusselige Ding wieder abgeschnitten. Noch nichts deutete darauf hin, wie die Geschichte dieses Bartes einmal weitergehen würde. Gut möglich, dass Aron Gunnarsson am Sonntag ein paar Franzosen rasiert.

Wenn man Arnor Thor Gunnarsson einige Tage vor dem Viertelfinale zu Hause in Island am Handy erreicht, dann kann man nicht anders, als mit ihm auch über diesen Bart zu reden. Der Bart des Aron Gunnarsson ist gerade das berühmteste Kinnversteck zwischen Akureyri und Athen.

"Ohne Ball ist Aron einer der besten Mittelfeldspieler der Welt", sagt sein Trainer

Der Fußball wäre wenig ohne seine Sensationen. "Island - England 2:1", im Achtelfinale der Europameisterschaft, das war am vergangenen Montag so eine Sensation, gegen die für einen Moment alles andere klein wurde. Island wirft England raus, hasteschongehört? Aber gar nichts wäre der Fußball ohne seine Bilder. Bilder wie eben dieses: Aron Gunnarsson, 27, mit nacktem Oberkörper, umfangreich tätowiert, der Brustkorb wie von einem Bildhauer gemeißelt, wie er als Anführer vor einer Horde ebenfalls sehr wilder Männer steht, die rhythmisch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und "Hu! Hu! Hu!" brüllen. Gunnarsson steht ganz vorne, die Fotografen stellen sein Gesicht scharf, der Bart sieht jetzt wirklich sehr furchterregend aus, und dann schicken die Fotografen das Bild um die Welt.

Inzwischen mag Arnor Thor Gunnarsson den Bart. "Als ich das gesehen habe", sagt er in sein isländisches Mobiltelefon hinein, "da dachte ich: Wow, das ist richtig cool. Er sieht ja aus wie ein Wikinger aus dem Jahr 800 oder so. Wahrscheinlich haben jetzt alle Angst vor ihm." Arnor Thor Gunnarsson findet, dass ein Kapitän der isländischen Fußball-Nationalmannschaft unbedingt so aussehen sollte, dass alle Angst vor ihm haben. "Aron", sagt Arnor Thor, "ist wirklich ein super Island-Repräsentant." Allerdings wäre so ein Bart wenig wert ohne einen klugen Kopf, ein leidenschaftliches Herz und ein paar gut sortierte Füße dahinter.

Diese Woche in Annecy-le-Vieux, Departement Haute-Savoie, hinter dem Lac d'Annecy geht es hinauf nach Albertville. Die Isländer spielen eine Runde Fußballtennis im Complexe Sportif d'Albigny, einem kleinen Stadion mit großen Uefa- Euro-2016-Werbebannern drum herum. Die Nachbarn haben sich zwei Plastikstühle in die Einfahrt gestellt, wenn jemand vorbeikommt, sagen sie laut "Bon jour", und noch ehe man außer Hörweite ist, diskutieren sie über die mögliche Herkunft der Besucher. Schweden? Deutschland? Belgien? Seit der Sache mit den Engländern kommen plötzlich viele nach Annecy-le-Vieux.

Der Trainer Heimir Hallgrimsson, 49, hat jetzt 15 Kameras vor der Nase, an diesem Sonntag spielen die Isländer im Stade de France gegen den EM-Gastgeber Frankreich, das setzt einiges in Bewegung. Zum Beispiel will jetzt jeder wissen, was das Geheimnis ist hinter dieser Überraschungsmannschaft von der Gletscher- und Vulkaninsel im Nordatlantik.

Heimir Hallgrimsson sagt dann, grob zusammengefasst, dass dieser Vorstoß unter die besten acht Europas gar keine Überraschung sei. Sondern das Ergebnis langfristiger Planung und kluger Taktik. Er erzählt von den mehr als 700 Jugendtrainern mit A- oder B-Lizenz; ein ausgebildeter Fußballlehrer pro 500 Einwohner, auf diesen Schnitt kommt kein anderes Land der Welt. Hallgrimsson erzählt auch von einer klaren Strategie auf dem Platz: Die Isländer tun dort das, was sie können (verteidigen, lange Bälle, verteidigen), und lassen bleiben, was sie nicht können (dribbeln, Doppelpass, Tiki-Taka, Schnicki-Schnacka). Der Trainer Hallgrimsson hat inzwischen einige Übung darin, das Phänomen Island in TV- und Radio-tauglichen 1:30 Minuten zusammenzufassen.

Wenn man ihn aber fragt, was der Bartträger Aron Gunnarsson für diese Mannschaft bedeute, dann sagt er etwas, was nicht viele Trainer sagen würden über den Mittelfeldhaudrauf einer walisischen Unterschichtentruppe, mit der Gunnarsson übrigens 2014 gleich wieder abgestiegen ist, das aber wenigstens gut rasiert. Hallgrimsson sagt also: "Ohne Ball ist Aron einer der besten Mittelfeldspieler der Welt."

Die Geschichte beginnt in der ewigen Nacht von Akureyri

Die meisten Trainer schauen darauf, was ihre Spieler mit Ball so draufhaben. Heimir Hallgrimsson von den Vestmannaeyjar-Inseln, der im Nebenberuf Zahnarzt ist und sich den Job als Nationalcoach mit dem Schweden Lars Lagerbäck teilt, schaut vor allem darauf, was sie ohne Ball tun. Räume zustellen, Abwehrreihen verschieben, den Gegenspieler anlaufen. Der Mannschaft Ruhe und Gleichgewicht geben. Sich aber auch aufreiben, dem Gegner hinterherhetzen, die Mitspieler absichern. Bart statt Ball. Und dann, klar, aus einem langen Pass und einem weiten Einwurf (Gunnarssons Spezialität) zwei Tore machen und das Spiel gewinnen. Damit ist man dem Geheimnis der Isländer schon ein ganzes Stück nähergekommen.

Aron Gunnarsson sagt: "Wenn ich meinen Mitspieler ansehe, weiß ich, dass er sich aufopfert, um meine Fehler auszubessern, und ich mache dasselbe für ihn."

Die Geschichte dieses ewigen Kampfes beginnt in der ewigen Nacht von Akureyri am Eyjafjord, wo es im Winter 19 Stunden pro Tag dunkel ist und sich die Schneeberge vielleicht nicht ganz bis zur Kirchturmspitze auftürmen, aber fast. Sechs Kinder zählt die Familie, drei Mädchen, drei Jungen. Der Vater ist ein bekannter Erstliga-Handballer. Die Söhne Arnor Thor und Aron sind Handballer und Fußballer zugleich. Vor allem aber sind sie Wettkämpfer. Wer als Erster an der Bushaltestelle ist, hat gewonnen. Wer als Erster seinen Stapel Gratiszeitungen ausgetragen hat, hat gewonnen. Wer als Erster seine Müslischüssel leergefrühstückt hat, hat gewonnen. So ging das bei ihnen tagein, tagaus. "Heute sind wir die besten Freunde", erzählt Arnor Thor, "aber mit zehn, elf, zwölf, da haben wir eigentlich immer gekämpft. Wir waren trotzdem Freunde, klar, aber anders als heute. Wir haben so viel gekämpft."

Dass Aron, der Jüngere, mal irgendwo Kapitän werden würde, sagt sein Bruder, "das war mir schon klar, als er 13 war". Vor dem Einschlafen hat er sich immer auf den Fußboden gelegt und Sit-ups gemacht.

In Island, diesem Land mit nur 330 000 Einwohnern, kennt jedes Kind einen Profisportler. Persönlich, aus der Nachbarschaft, nicht nur vom Poster im Kinderzimmer. "Jeder hat ein Vorbild", sagt Arnor Thor Gunnarsson, aus Akureyri stammt zum Beispiel auch der Handballer Alfred Gislason, inzwischen Trainer beim THW Kiel. Nationalspieler werden - das ist in Island keine Spinnerei wie in Deutschland Superstar werden mit Dieter Bohlen oder Topmodel werden mit Heidi Klum. Das ist ein sehr reales Ziel. Auch ein mühsames allerdings: "Der viele Schnee im Winter, und dann musst du alle zwei Wochen zu einem Meisterschaftsspiel nach Reykjavik, vier Stunden hin, vier Stunden zurück", sagt Arnor Thor Gunnarsson: "Aber so lernst du, dass du im Leben kämpfen musst." Arnor Thor hat sich mit 13 Jahren auf Handball festgelegt, wie der Vater, er spielt heute in der deutschen Bundesliga beim Bergischen HC, Wuppertal-Solingen. Aron hat mit 15 Jahren in der ersten isländischen Handball-Liga debütiert, er ist bis heute einer der Jüngsten, die dort je gespielt haben. Aber der Fußball ließ ihn einfach nicht los. Irgendwann musste er sich dann entscheiden, "das war schwer", erinnert sich der Bruder, "der Handballtrainer sagte, du musst Handballer werden, der Fußballtrainer sagte, du musst Fußballer werden." Der Vater sagte: Du bist so ein guter Handballer, Aron ...

Aber am Ende hat die Familie Aron Gunnarsson nicht in die eine oder andere Richtung zu lenken versucht. Höre in dich hinein, sagten die Eltern, also hörte Aron in sich hinein. Und wurde Fußballer. "Das fand ich eigentlich gut, dass die Eltern ihm diese Freiheit gelassen haben", sagt Arnor Thor. Was für einen Bart die Geschichte mal kriegen würde, war damals ja nicht vorherzusehen.

Der Weg führte über die Nachwuchs-Elf von Alkmaar, Niederlande, nach Coventry, Mittelengland, zweite Liga. Und dann, 2011, weiter nach Wales. Sie mögen ihn dort, nicht nur, weil er Cardiffs Premieren-Torschütze in der Premier League ist, bei einem 3:2-Sieg gegen Manchester City erzielte er den ersten Treffer. Sondern weil Aron Gunnarsson dieser Kämpfer ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Einer, der auch mit dem Ball einiges kann. Zum Beispiel: ihn sehr weit werfen.

Wenn man nach den Geheimnissen des isländischen Erfolgs sucht, kommt man an diesem Detail nicht vorbei: dass ihr Kapitän immer auch Handballer geblieben ist. Niemand sonst bei der EM kann den Ball von der Seitenauslinie so weit, präzise und scharf in den Strafraum feuern wie Aron Gunnarsson, zwei Tore hat er so schon vorbereitet, eines gegen Österreich, eines gegen England. Übrigens, wenn man den jüngsten Veröffentlichungen in deutschen Medien glauben darf, beide irregulär.

An seinem Bart fummelt er herum wie einer, der diesen noch für ein Versehen hält

Aron Gunnarsson werfe den Ball in Wahrheit nur mit der rechten Hand, ist zu lesen, die linke sei nur Stützhand, das ist im Regelwerk der Fifa neuerdings verboten. Das isländische Fußballmärchen - ist es womöglich erbaut auf Ballwurfbetrug?

Noch einmal zurück also nach Annecy-le-Vieux, zum Trainer Heimir Hallgrimsson, der gerade Kamera 14 erreicht hat. Frage: Ist er beunruhigt, weil das mit den irregulären Einwürfen jetzt rausgekommen ist? Bei der Frage guckt Hallgrimsson einen an, als habe man gerade versucht, isländisch mit ihm zu reden. "Irreguläre Einwürfe? Ich habe davon noch nichts gehört oder gelesen, das ist kein Thema bei uns" sagt er und lacht: "Daran sehen Sie schon, wie sehr es mich beunruhigt."

Unten auf dem Sportplatz sitzt Aron Gunnarsson auf einem Stuhl unter einem Pavillon und sieht den Trainingsvorbereitungen zu. Er fummelt an seinem Bart herum. Unbewusst, aber die ganze Zeit. Er streicht ihn glatt, kratzt sich, zwirbelt die Haare zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Strang, führt die Handflächen an den Wangen entlang. So wie Männer das machen, die es noch nicht gewohnt sind, dass da jetzt etwas wächst. Männer, die ihren Bart intuitiv noch für ein Versehen, für eine Verkleidung halten.

Aron Gunnarsson, das ahnt man, wenn man ihn eine Weile beobachtet und mit seinem Bruder in Akureyri spricht, ist eigentlich gar kein furchterregender Wikinger. Aber er hat eine Rolle in dieser Mannschaft, und die erfüllt er an der Grenze zur Perfektion. Er ist der Kapitän. Der Kapitän, altes Seemannsgesetz, lässt als Letzter vom Bart.

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