Aufstieg in die BundesligaBochum und der Pulsschlag aus Stahl

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Freude jenseits aller Abstandsregeln: VfL-Bochum-Fans feiern auf der Castroperstraße vor dem Ruhrstadion.
Freude jenseits aller Abstandsregeln: VfL-Bochum-Fans feiern auf der Castroperstraße vor dem Ruhrstadion. (Foto: Fabian Strauch/dpa)

"Bei uns soll der Fußball Volkssport bleiben": Aufsteiger VfL Bochum will nicht einfach der nächste Vertreter der Unterhaltungsindustrie sein - sondern eher so, wie Herbert Grönemeyer einst sang.

Von Ulrich Hartmann, Bochum/München

Zwei Minuten lang sprangen die Fußballer des VfL Bochum in der Pressekonferenz wie von Sinnen um ihren Trainer Thomas Reis herum. Sie brüllten, sie sangen, sie übergossen ihn mit Bier. Dann zogen sie sich sukzessive wieder zurück und hinterließen eine durchnässte und nach Bier stinkende Respektsperson. Als Reis wieder ganz alleine dasaß und sich mit einer VfL-Fahne gerade das Bier aus den Augen wischte, da hörte man aus dem Hintergrund einen der Spieler noch mit echtem Bedauern sagen: "Schuldigung, Trainer!" Offenbar hatte da jemand Angst um seinen Stammplatz, nächste Saison in der Bundesliga.

Ja, Bundesliga. Wenn zuletzt die Frage aufkam, wie in aller Welt es dieser VfL Bochum mit seinem Zwölf-Millionen-Euro-Etat und einer unter gewissen Zwängen komponierten Mannschaft überhaupt schaffen konnte, in die Bundesliga aufzusteigen, noch dazu als Zweitliga-Meister, dann wurde meistens auf den Trainer Reis verwiesen. "Ihm ist es gelungen, aus einigen starken und schwierigen Charakteren eine Mannschaft zu formen", sagte der Geschäftsführer Ilja Kaenzig. "Reisi ist 'ne harte Kante, der musste auch mal durchgreifen", sagte der Stürmer Simon Zoller. Wer im Training auch nur ein bisschen durchhing, riskierte seinen Startplatz. Kein Wunder, dass sich Spieler explizit dafür entschuldigen, diesem strengen Mann Bier über den Kopf gegossen zu haben. "Ich danke der Mannschaft für ihr Vertrauen", sagte schließlich aber sehr versöhnlich der in Gerstensaft marinierte Trainer.

Der 47 Jahre alte Wertheimer ist auf diesem Fußballniveau ein Novize. Es gab gewisse Zweifel rund um den Klub, als der frühere Bochumer Fußballprofi im September 2019 hier sein Traineramt antrat. Doch er hätte es gar nicht besser hinbekommen können. Elf Jahre nach dem letzten Abstieg führte er den VfL zurück in die Bundesliga, wo der Klub von August an seine insgesamt 35. Bundesliga-Saison bestreitet. Es ist der siebte Aufstieg für den VfL aus der 370 000-Einwohner-Stadt im Herzen des Ruhrgebiets".

"Reisi ist 'ne harte Kante": Bochums Aufstiegscoach Thomas Reis wurde von den Spielern am Sonntag mehrmals mit klebrigen Getränken begossen.
"Reisi ist 'ne harte Kante": Bochums Aufstiegscoach Thomas Reis wurde von den Spielern am Sonntag mehrmals mit klebrigen Getränken begossen. (Foto: Ina Fassbender/Reuters)

Dass die Menschen dort sehr emotional sind, ist bekannt. Dass sich geschätzte 7000 Fans am Sonntag verbotenerweise dicht an dicht auf den Straßen rund ums Stadion tummelten, ist nicht verwunderlich. Aber dass die Polizei zehn Menschen festnehmen, 70 wegen Zündelns bestrafen und elf wegen Sachbeschädigung und Drogenkonsums anzeigen musste, ist irritierend. Acht Beamte wurden verletzt. Man hatte den Eindruck, Fußball-Freude und Corona-Überdruss gingen hier ineinander über.

Auch in der Chefetage des VfL herrscht Corona-Überdruss, allerdings zeigt er sich dort anders. Auf fast elf Millionen Euro soll sich das coronabedingte Defizit aus den jüngsten beiden Spielzeiten summieren. Deshalb benötigte der Klub ein Sechs-Millionen-Euro-Darlehen der KfW-Förderbank. Nun kommt dem Klub der Aufstieg äußerst gelegen. Der Etat soll auf etwa 24 Millionen Euro fast verdoppelt werden. Der Kader dürfte indes nur marginal verändert werden. Nahezu alle Spieler haben einen gültigen Vertrag, darunter der stimmungsprägende Torwart Manuel Riemann, die hochtalentierten Innenverteidiger Maxim Leitsch und Armel Bella Kotchap, die Mittelfeld-Grand-Seigneurs Anthony Losilla und Robert Tesche sowie die Topscorer Robert Zulj und Simon Zoller. Zwei, drei Neue werden gewiss hinzukommen, einer davon ist wohl Paderborns Flügelstürmer Christopher Antwi-Adjei.

Der Klassenerhalt aber wird eine enorme Herausforderung. Tesche (125), Zoller (76) und Gerrit Holtmann (50) sind die einzigen Spieler mit nennenswerter Erfahrung an Bundesliga-Spielen. Diesbezüglich ist die Administration im Klub nicht nur erfahrener, sondern auch tiefer verwurzelt. Der Trainer Reis hat einst 199 Pflichtspiele für den VfL Bochum gemacht, sein Assistent Heiko Butscher 65, der Sportvorstand Sebastian Schindzielorz 147 und der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Martin Kree 180. "Hier, wo das Herz noch zählt ...", hört man Herbert Grönemeyer vor jedem Heimspiel aus den Lautsprechern in seinem Lied "Bochum" singen. Für den Moment stimmt dieser Pathos tatsächlich einmal.

Kein einziges Profispiel hat der Finanzvorstand Kaenzig jemals bestritten. Der Schweizer hat die Bochumer Mentalität gleichwohl inhaliert und zeichnete sogar im Schweizer Fernsehen auf Schwyzerdütsch das VfL-Selbstbild nach. "Es gibt jenen Fußball, der ein Teil der Unterhaltungsindustrie ist, aber bei uns soll er Volkssport bleiben", sagte Kaenzig da, und: "In Bochum wollen wir das Gegenprodukt sein zur grellen, schrillen, verrückten Fußballwelt."

Man könnte also sagen, dass die Bundesliga da so einen ähnlichen Verein wiederbekommt wie Union Berlin. In Berlin-Köpenick nennen sie sich "die Eisernen". In Bochum singen sie den Grönemeyer-Text vom "Pulsschlag aus Stahl". Die Schwerindustrie hat sich aus dem Ruhrgebiet freilich weitgehend verabschiedet. Auch in dieser Hinsicht muss der VfL die Menschen trösten helfen.

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