Süddeutsche Zeitung

Aufregung um Coach der Schweiz:Hitzfeld entgleist

Eigentlich gilt er als zurückhaltender Gentleman, doch diesmal zückt er den Stinkefinger: Der Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld findet für seine unfeine Geste im WM-Qualifikationsspiel gegen Norwegen eine kuriose Entschuldigung - trotzdem droht ihm eine Strafe.

Michael Neudecker

Ottmar Hitzfeld sieht in diesem Moment genau so aus, wie er immer aussieht. Schwarzer, elegant schlichter Trenchcoat, der Kragen hochgestellt, das graue Haar stoppelig nach hinten gekämmt, die vielen Falten und Furchen im Gesicht so tief, dass man einen ganzen Uli Hoeneß drin verstecken könnte, der Schritt langsam, Ottmar Hitzfeld ist ja keiner dieser Rumpelstilzchen-Trainer, er ist kein Klopp; er rennt nie, er schreitet, und wenn er sauer ist, dann schimpft er und gestikuliert zwar auch mal, aber er fuchtelt nicht. Und dann dieser Blick: ernst, sehr, sehr ernst.

Ottmar Hitzfeld also geht ein paar Schritte, er dreht sich zur Spielfeldmitte, er schimpft, und dann passiert es: Ottmar Hitzfeld ist für einen kurzen Moment lang nicht mehr Ottmar Hitzfeld. Alles landet irgendwann im Netz, also ist auch das im Internet anklickbar, als Video: Wie Ottmar Hitzfeld nach dem Abpfiff des WM-Qualifikationsspiels Schweiz gegen Norwegen seinen Mittelfinger effenberghaft zum so genannten Stinkefinger ausstreckt, um dem Schiedsrichter anzuzeigen, was er von ihm hält.

Der Schiedsrichter, ein gewisser David Fernández Borbalán aus Spanien, ist in diesem Moment zwar nicht im Bild zu sehen, aber die Sache ist ja klar, Hitzfeld wird später über den Herrn Borbalán schimpfen, er wird sagen, dass er "nicht viel über den Schiri sagen möchte", aber dass es "immer schwierig" sei, "gegen zwölf Mann zu spielen". Gegen wen sonst sollte der Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld die unschöne Geste gerichtet haben, wenn nicht gegen den Schiedsrichter?

Natürlich haben auch die Regelwächter des Fußball-Weltverbandes Fifa diese Videobilder, wahrscheinlich werden sie die Aufnahmen dieser Tage ungefähr genau so oft anschauen wie die videogierige Internetgemeinde, ein Hitzfeld als Effenberg, so was sieht man ja nicht alle Tage. Ottmar Hitzfeld, 63, ist in der branchenüblichen Typologie der Trainer der Gentleman, der Lörracher Mathematiklehrer, der zwar emotionsgeladen ist, aber seine Emotionen im Griff hat.

Seine Biografie ließ er von Josef Hochstrasser schreiben, einem ehemaligen Pfarrer, und nur einmal verlor Ottmar Hitzfeld in seiner jahrzehntelangen Laufbahn bisher die Contenance: Als er nach sieben Jahren als Trainer des FC Bayern auf dem Rasen der Münchner Arena verabschiedet wurde, da weinte er.

Und jetzt: Prüft die Fifa, ob, und wenn ja, welche Konsequenzen Herr Hitzfeld in dieser Sache zu erwarten hätten, wie die Fifa am Sonntag mitteilte. Es droht eine Strafe wegen ungebührlichen Verhaltens. Ein Stinkefinger, noch dazu vor laufender Kamera, das kann teuer werden: Stefan Effenberg, der Erfinder des öffentlichen Stinkefingers, wurde nach seiner Geste gegen die deutschen Fans in der Vorrunde der WM 1994 nach Hause geschickt, und erst vor wenigen Tagen wurde der Trainer des französischen Meisters Montpellier, René Girard, nach seinem Stinkefinger in der Champions League gegen Schalke-Trainer Huub Stevens zu einem Spiel Sperre und einem weiteren auf Bewährung sowie einer Geldstrafe von 5000 Euro verurteilt.

Aber doch ist die Sache mit Hitzfeld eine andere, im Gegensatz zu Effenberg und Girard ist bei Ottmar Hitzfeld ja nicht eindeutig geklärt, wem die Geste galt, was wiederum für eine eventuelle Bestrafung relevant wäre. Ottmar Hitzfeld sagt: Er habe den Stinkefinger gar nicht dem Schiedsrichter gezeigt. Sondern sich selbst.

Der Schweizer Mario Gavranovic hatte in der 79. Minute den Treffer zum 1:0 erzielt, nur zwei Minuten später aber glich Norwegens Brede Hangeland aus, nach einer Ecke, "die gar keine Ecke war", wie Hitzfeld findet. Es blieb beim 1:1, und man kann als Trainer sauer werden, wenn die Mannschaft so schnell einen so spät erzielten Vorsprung verspielt, Hitzfeld sagt, er sei "stinksauer" gewesen. Und was die Geste angeht, sicher, die sei "unnötig" gewesen, "natürlich bin ich auf mich sauer". Aber: Eine Strafe? "Der Finger war gegen mich gerichtet", sagt Ottmar Hitzfeld, "wen wollen sie da bestrafen?"

Emotionen sind ein wichtiger Bestandteil des Sports, Beleidigungen sind auch Emotionen, weshalb es viele Beispiele von Beleidigungen und ihrer anschließenden Rechtfertigung gibt; erst neulich gab es den Fall des Nürnberger Bundesligaprofis Robert Mak, der über den Internetdienst Twitter schrieb: "Verdammter Trainer", und danach äußerte, er habe das gar nicht geschrieben, jemand habe seinen Account verwendet.

Es gab solche Vorfälle auch schon, als es noch keine Accounts gab und "Suppenkasper" ein durchaus gebräuchliches Schimpfwort war - einen Stinkefinger gegen sich selbst allerdings, das hat es in der an Stinkefingern nicht armen Sportgeschichte noch nie gegeben.

Die Züricher Sonntagszeitung stellte nun ganz richtig fest: "Hitzfeld bringt eine neue Dimension ein: sich selbst zu beleidigen". Überhaupt wird Hitzfelds Begründung - die er ja nicht im Spontaneifer direkt nach Spiel und Geste vorbrachte, sondern am Tag nach dem Spiel in ausgeruhter Atmosphäre im Schweizer Teamhotel in Feusisberg - in der Schweiz mit einer gewissen Irritation aufgenommen.

Augenzeugen der Pressekonferenz in Feusisberg berichten, Hitzfeld habe auf Nachfrage, ob man ihn da gerade richtig verstanden habe, geantwortet, verlegen wirkend: "Gegen wen, spielt doch keine Rolle", und dann noch angefügt: "Was ich alles auf der Bank mache, weiß ich nicht", und schließlich: "Jeder kann in seinem Leben immer etwas verbessern." Es ist wahrscheinlich so: Niemanden hat dieser eine Moment, diese eine Unbeherrschtheit am späten Freitagabend in Bern mehr überrascht als Ottmar Hitzfeld selbst. Das Urteil der Fifa wird frühestens am Mittwoch erwartet.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2012/jbe
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