Im Trubel des allgemeinen Überschwangs auf dem Fußballrasen standen wenige Minuten nach dem Abpfiff plötzlich der Fußballmanager Hans-Joachim Watzke und der Trainer Thomas Tuchel voreinander. Sie hatten sich nicht gesucht, sie begegneten sich zufällig, und man sah, dass sie ganz kurz überlegten, was sie nun tun sollten.
Borussia Dortmund hatte Werder Bremen in einem begeisternden Spiel mit 4:3 besiegt und sich dadurch für die Champions League qualifiziert. Pierre-Emerick Aubameyang hatte eine Minute vor dem Ende den siegbringenden Elfmeter verwandelt und mit diesem 31. Saisontreffer die Bundesliga-Torjägerkanone gewonnen. Nächsten Samstag kann Dortmund im Berliner DFB-Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt den ersten Titel seit fünf Jahren holen.
Viele Gründe zur Freude also, eigentlich. Watzke und Tuchel umarmten sich nach kurzem Zögern. Doch sie schauten sich nicht an, sie sagten nichts, es dauerte bloß zwei Sekunden. Watzke drehte die Augen weg, als sein Kinn Tuchels Schulter berührte. Es schien ihm unangenehm zu sein.
Marc Bartra kehrt zurück
Diese Umarmung verriet alles über das Verhältnis zwischen Watzke und Tuchel, und sie verdeutlichte, dass Tuchel am Samstag wohl sein letztes Heimspiel als BVB-Trainer erlebt hat. "Echte Liebe", lautet der Slogan des Vereins, aber für Watzke und Tuchel gilt das Gegenteil. In seinem Editorial über eine gelungene Saison im Stadionheft erwähnte Watzke den Trainer nicht einmal.
Tuchel stand während des Spiels oft grüblerisch mit den Händen in den Taschen seiner Trainingshose an der Seitenlinie, aber dann wurde das Spiel derart dramatisch und berauschend, dass es ihn mitriss. 0:1 geriet der BVB früh in Rückstand, ging aber noch vor der Pause mit 2:1 in Führung durch ein Volley-Traumtor, das Ousmane Dembélé dem Stürmer Aubameyang per Lupfer in den Strafraum auflegte. Bremen drehte das Ergebnis wieder auf 3:2, doch in der letzten Viertelstunde verwandelten Marco Reus und Aubameyang zwei Foulelfmeter zum 4:3-Sieg.
Stimmen zur Bundesliga:"Selbstverständlich, dass wir uns umarmen"
Beim BVB geht es zwischen Trainer Tuchel und Geschäftsführer Watzke aufwärts. HSV-Coach Gisdol ist fix und fertig, Philipp Lahm sentimental. Die Stimmen zum Saisonfinale.
81 000 Zuschauer waren berauscht, Tuchel herzte seine Spieler, Aubameyang weinte "Lacrime di Gioia", wie er sagte: "Freudentränen"; und auch der Abwehrspieler Marc Bartra bekam feuchte Augen, weil er fünfeinhalb Wochen nach seiner Armverletzung beim Anschlag auf den Mannschaftsbus sein Comeback hatte geben dürfen. Bartra trug noch einen leichten Gips. Er sagte: "Das ist einer der schönsten Tage meiner Karriere; meine Familie ist hier - es sind so viele Emotionen."
Es war das emotionalste Dortmunder Spiel der emotionalsten Dortmunder Saison seit langem - aber die Gefühle wurden heruntergekühlt vom frostigen Verhältnis zwischen Watzke und Tuchel sowie vom drohenden Weggang des Stürmers Aubameyang. Er kokettiert trotz eines noch bis 2020 gültigen Vertrags mit dem Interesse namhafter Klubs.
Von 13 über 16 auf 25 und nun 31 hat Aubameyang seine Saisontreffer in den vier Spielzeiten beim BVB gesteigert, in der Bundesliga-Torschützenliste ist er zuletzt Dritter, Zweiter und nun Erster geworden. Er hat Lothar Emmerichs Vereinsrekord aus der Saison 1965/66 eingestellt und in 185 Pflichtspielen für Dortmund 118 Tore erzielt. Aubameyang wäre für Dortmunds Zukunft gerade bei einem Fortgang des Trainers Tuchel ein verbindendes Element, aber nach dem Spiel sagte er mit der Torjägerkanone im Arm: "Nach dem Pokalfinale spreche ich mit dem Verein - und dann entscheide ich." Die Formulierung liefert Indizien dafür, dass das Pokalfinale in Berlin Aubameyangs letzter Auftritt im BVB-Trikot sein könnte.
Am kommenden Sonntag wollen sie als Pokalsieger alle zusammen um den Borsigplatz fahren und sich von den Fans feiern lassen. Tuchel braucht den Titel aber offenbar nicht mehr zum Nachweis seiner Leistung und jener der Mannschaft - so sieht er das zumindest. "Es war eine anspruchsvolle Aufgabe, in der Saison des größten Umbruchs seit zehn Jahren sowie mit den Verletzungsproblemen und der Anschlagssituation die Champions-League-Karte zu lösen - dafür gebührt der Mannschaft das allergrößte Kompliment." Die Bewältigung dieser vielen Probleme im Laufe der Saison, sagt Tuchel, "ist oft einfach untergegangen, weil die Spieler in allen entscheidenden Spielen und egal in welcher Zusammensetzung immer, immer, immer geliefert haben." Schon dafür, findet Tuchel, "hätten wir sie eine Woche lang um den Borsigplatz fahren müssen."
Doch die Meinungen über die Leistungen im Laufe der Saison gingen bisweilen auseinander. Und so sah man Tuchel und Watzke am Samstag, wie jeder für sich die Spieler herzte. Sie gingen von einem zum anderen für innige Umarmungen, bloß unterbrochen für die kühle Begegnung miteinander. Hinterher zog es Tuchel sogar vor die Südtribüne. Er applaudierte den Fans, ganz kurz nur, in der zweiten Reihe. Als würde er den vorsichtigen Versuch wagen, Tschüss zu sagen.