ATP-Finale in London:Showdown mit viel Drama, baby!

ATP-Finale in London: Für Andy Murray gibt es nach dem Sieg über Milos Raonic nur noch ein Ziel: die Weltranglistenführung.

Für Andy Murray gibt es nach dem Sieg über Milos Raonic nur noch ein Ziel: die Weltranglistenführung.

(Foto: AFP)

Novak Djokovic gegen Andy Murray: Im letzten Spiel des Jahres streiten sich die beiden Kampfhähne um die Weltranglistenführung - das gab es noch nie.

Von Philipp Schneider, London

Es war schon tiefe Nacht im Londoner Stadtteil Greenwich, als Andy Murray drei Stunden nach seiner Partie mit schleppendem Schritt den Presseraum betrat und hinter einem kleinen Mikrofon Platz nahm, das nun seine sehr leise Stimme verstärken sollte. Murray packte das Mikrofon mit beiden Händen, blickte unter schweren Augenlidern in die Runde. "Ich weiß nicht, wie ich mich morgen fühlen werde, aber offensichtlich sehr müde", hob er an: "Das Spiel war ja nicht nur physisch hart, es war auch mental aufreibend."

Es gibt Tennismatches, die hätten es verdient, in Endlosschleife an die weiße Wand des Natural History Museum in London projiziert zu werden, gleich neben dem Skelett des Tyrannosaurus rex. 5:7, 7:6 (7:5), 7:6 (11:9) das waren am Samstag die Zahlen von Murrays Halbfinale gegen den Kanadier Milos Raonic beim Saisonabschlussturnier der ATP. Aber Zahlen sind ja manchmal nur die prosaische Form, hinter der sich Lyrik verbirgt. Murray hatte dieses Spiel nicht einfach nur gewonnen, er war gefallen und wiederauferstanden, er hatte länger als drei Stunden im Dauerfeuer des kanadischen Aufschlagspezialisten gestanden, er war im zweiten Satz nur zwei Punkte von einer Niederlage entfernt gewesen und im Tie-Break des letzten nur einen. Es war spielerisch kein hochklassiges Match. Aber es war höchst außergewöhnlich in den Kategorien "drama and stuff", wie es Murray ausdrückte.

Das Spiel dauert 218 Minuten - Rekord für die ATP Tour Finals

81 Minuten dauerte allein der dritte Satz, in dem sich Murray die Breaks zum 5:4 und 6:5 holte, in beiden Fällen aber seinen folgenden Aufschlag nicht durchbrachte, um sich noch vor einem Tie-Break mit dem Matchgewinn zu belohnen. Nach 218 Minuten verwandelte er schließlich seinen vierten Matchball. 218 Minuten, das sind zwei mehr als die Kinofassung von Lawrence von Arabien hat; es war sogar das längste Drei-Satz-Match in der Geschichte der ATP Tour Finals. Das zweitlängste Match dauerte mit exakt 200 Minuten ganze 18 Minuten weniger und war erst drei Tage vorher gespielt worden. Am Mittwoch verlor Kei Nishikori in drei Sätzen gegen: Andy Murray.

Er habe die vergangenen Stunden lange Zeit viel im Eisbad gelegen, um sich zu regenerieren, berichtete Murray. Als er dies erzählte, wusste er noch nicht, ob er im Finale auf Novak Djokovic treffen würde, oder abermals auf Nishikori, die in diesem Moment erst das zweite Halbfinale bestritten. Er wusste lediglich, dass er, sollte er bis dahin wieder die nötige Kraft zum Laufen spüren, die Chance haben würde, seinen Status als Nummer eins bis zum Jahresende zu konservieren. Dass Djokovic mit 6:1, 6:1 über den Japaner hinwegfegte, das ergibt nun die Pointe einer bemerkenswerten Saison: Es kommt zum Showdown zwischen Murray und Djokovic, der das Tourfinale als erster Profi zum fünften Mal in Serie gewinnen könnte.

Die ATP ist beim letzten Turnier der Saison nicht nur Lizenzgeber, sondern auch Veranstalter. Und als Organisator möchte sie am Jahresende den Ausrichtern der übrigen Turniere traditionell sehr gerne zeigen, wie ein gelungenes Tennis-Event auszusehen hat (viel Nebel, laute Musik, noch lautere Gewinnspiele in den Spielpausen, ein bisschen Laser). Doch Djokovic gegen Murray, das ist nun abseits aller Knalleffekte das perfekte Szenario für die ATP: Am Sonntagabend streiten sich zur feinsten Sendezeit (19 Uhr MEZ im SZ-Liveticker) die beiden Weltbesten im direkten Vergleich um die Frage, wer als Nummer 1 ins neue Jahr zieht. Im letzten Match des Jahres. Auch das gab es noch nie.

Djokovic und Murray in London: zwei Kampfhähne in sicherer Distanz

Erst Anfang November hatte Andy Murray Djokovic von der Spitze verdrängt - nach 122 Wochen. Ihr sportlicher Erfolg hatte Murray und Djokovic in London voneinander ferngehalten. Zunächst spielten sie als Gesetzte in unterschiedlichen Gruppen, dann in verschiedenen Halbfinals, weil sie beide die Vorrunde unbesiegt als Erste beendeten. So konnten sie sich beobachten, aber durften sich nicht nahe kommen. Wie zwei Kampfhähne, die in sicherer Distanz aber Aug in Aug in ihren Käfigen erst eine Weile geschwenkt werden, ehe sie dann im Ring aufeinander losgelassen werden.

Es ist das passende Ende für eine Saison, in der sich Murray und Djokovic die ganze Zeit lang über duelliert haben. Die erste Hälfte dominierte Djokovic, und wer Anfang Mai behauptet hätte, es gäbe da jemanden, der dem Serben bis Jahresende die Führung in der Weltrangliste noch streitig machen könnte, er hätte als Übernachtungsort eine Einrichtung empfohlen bekommen, in der die Einzelzimmer gummierte Wänden haben. Über 9000 Punkte Vorsprung hatte Djokovic zu diesem Zeitpunkt. Doch seit er in Paris den letzten Major-Titel gewann, der ihm in seiner Sammlung noch fehlte, schmolz Djokovics Vorsprung rapide. Die zweite Saisonhälfte gehörte Murray. Und zwar nahezu allein.

Murray hat 23 Spiele in Serie gewonnen

Der Schotte gewann nicht nur zum zweiten Mal in seiner Karriere Wimbledon, er reiste vergangene Woche nach London, nachdem er 46 der vergangenen 48 Matches entschieden hatte - seit Samstag sind es sogar 23 in Serie. Nach seiner Niederlage im Finale der French Open gegen Djokovic gewann er außer Wimbledon und Olympia auch die Wettbewerbe in Queens, Peking, Shanghai, Wien und zuletzt auch noch das Masters in Paris.

46 Siege schön und gut, so wurde noch Anfang der Woche kommentiert, aber hatte Murray sie nicht fast ausnahmslos errungen gegen Spieler jenseits der Top10? Auch das änderte sich beim Saisonfinale in London, wo sich Murray ohne Matchverlust durch die Gruppenphase fräste und am Samstag auch noch Raonic besiegte, den neuen Weltranglistendritten. "Ich habe jetzt drei Leute aus den Top5 besiegt, es gab ja Leute, die nicht glücklich darüber waren, dass ich keine Spieler aus den Top5 besiegt hatte", sagte Murray am Samstag: "Es gibt immer etwas, das nicht in Ordnung ist an dem, was man tut."

Dass die Debatte am Sonntag ihr Ende finden wird, ist das herrliche an diesem Finale zwischen Murray und Djokovic. Wer gewinnt, ist der Beste der Welt. So sieht das auch Raonic, der nach seiner Niederlage gegen Murray meinte: "Andy war definitiv der beste Spieler der Welt in den vergangenen sechs Monaten. Die einzige Sache, die noch fehlt, ist der Showdown gegen Novak. Es kann kein schöneres Szenario geben für alle Menschen, die Tennis lieben."

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