Mesut Özil bei Arsenal:Spitzenspieler ohne Mannschaft

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Der Fußballer Mesut Özil. (Foto: Richard Calver/imago images/ZUMA Press)

Seit der FC Arsenal ihn aus der Kaderliste gestrichen hat, ist Mesut Özil ein Fußballer, der nicht mehr Fußball spielt. Mehr denn je ist es ein Rätsel, was er denkt und wer ihn lenkt.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Mesut Özil hat in seinen Vereinen etliche Derbys gespielt, mit dem FC Arsenal gegen Tottenham, mit Real Madrid gegen Atlético, mit Werder Bremen gegen den Hamburger SV und viele mehr. Das folgenschwerste war wahrscheinlich jenes vom 12. Mai 2007. Schiedsrichter war Herbert Fandel, der gegnerische Trainer hieß Thomas Doll, außerdem wirkten auf der anderen Seite Marc-André Kruska, Markus Brzenska sowie der ehrenwerte, aber zweifellos schon angejahrte Haudegen Christian Wörns mit. Özil war gerade volljährig und schickte sich an, in seiner ersten Saison in einem Profiteam deutscher Meister zu werden. Es kam anders.

Für seinen Klub wurde es wieder mal ein tragischer Nachmittag, unter anderem deshalb, weil Christoph Metzelder den vermutlich einzigen Flankenlauf seiner Profikarriere mit einer Vorlage krönte, die Ebi Smolarek mit dem finalen Treffer vollendete. So gewann Borussia Dortmund am 33. Spieltag 2:0 gegen den Tabellenführer Schalke 04 und verhalf damit dem VfB Stuttgart zur Meisterschaft.

Niemand weiß, wie sich die Weltgeschichte entwickelt hätte, wenn damals der Favorit den Außenseiter besiegt hätte, aber so, wie es jetzt aussieht, teilen Özil und Schalke 13 Jahre später wieder ein gemeinsames Schicksal. Der geniale Spielmacher und der Klub aus seiner Heimatstadt zählen zurzeit zu den großen Verlierern im Fußball der Gegenwart.

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Özil klagt über mangelnde Loyalität

Während Schalke 04 am Samstagabend beim 0:3 im Revierderby beim BVB wieder einmal gezeigt hat, dass es das zentrale Thema des Spitzensports verlernt hat, das Gewinnen, musste Özil zu Beginn der Woche erfahren, dass er nun ein Spitzenspieler ohne Mannschaft ist. Sein Klub, der FC Arsenal, ließ ihn im Zuge eines Verwaltungsakts wissen, dass er für ihn keine Verwendung sieht. Als die Londoner den Kader für die laufende Premier-League-Saison nominierten, verzichteten sie darauf, Mesut Özil für einen der 25 Plätze zu melden.

Der Betroffene äußerte Enttäuschung und klagte über mangelnde Loyalität, sein Trainer Mikel Arteta hingegen verwahrte sich gegen Mutmaßungen, die Entscheidung habe keine sportlichen, sondern von den Klubautoritäten auferlegte innenpolitische Gründe. Der Beschluss sei eine Sache des Fußballs, sagte der Coach, wenngleich er das Votum gegen den 32 Jahre alten deutschen Weltmeister als persönliche Niederlage betrachte. Özil habe eine "sehr faire Chance" erhalten, doch ohne absehbaren Nutzen. Arteta übernahm die Verantwortung: "Ich habe als Trainer versagt."

Trotz dieser Beteuerungen vertreten Beobachter des englischen Profifußballs den Verdacht, der kalte Ausschluss sei das Resultat einer Auseinandersetzung zwischen Spieler und Klub: Nachdem Özil Ende vorigen Jahres durch ein Statement zugunsten des in China unterdrückten Volks der Uiguren den Geschäftsgang des Vereins irritiert hatte - Arsenal verdient in China gutes Geld -, setzte er im Frühjahr die Konfrontation fort mit der Weigerung, sich am Gehaltsverzicht zu beteiligen. Als er neulich anbot, den aus Kostengründen gekündigten Mitarbeiter zu bezahlen, der seit Jahren das Klubmaskottchen Gunnersaurus verkörpert, durfte das die Klubführung als Provokation verstehen.

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Nach seiner Ausbootung teilte Özil nun mit, er werde nicht nur weiterhin fleißig trainieren, sondern auch, "wo immer möglich, meine Stimme gegen Unmenschlichkeit und für Gerechtigkeit einsetzen".

Die Frage ist, wie weit Özils geschliffene und manchmal sehr pathetischen Stellungnahmen eigener Wortwahl entstammen, und wie weit sein Handeln auf eigener Überzeugung und Initiative beruht. Oder ob andere ihn lenken, und er es leider mit sich geschehen lässt.

Im Laufe der vielen Jahre, die er für die Nationalmannschaft spielte, ist er nicht unbedingt durch Kenntnisse der Weltpolitik aufgefallen, erst recht nicht durch kampflustiges, herausforderndes Verhalten oder gar durch Tücke und Arglist. Bis auf den heutigen Tag, sagt ein langjähriger DFB-Mitarbeiter, werde man rund um die Nationalmannschaft "niemanden finden, der etwas Schlechtes über ihn sagt". Was auch immer noch für den Bundestrainer gilt, obwohl er, Stichwort Loyalität, von seinem Lieblingsschüler enttäuscht wurde. Der samtpfötige Spieler Özil ließ einiges von der sanften Natur erkennen, die dem Menschen Özil zu eigen war. Auch das Langmütige, Lethargische und Unbedarfte, das seine sportlichen Kritiker immer beschäftigt hatte, gehört dazu. "Er war freundlich zu jedem, aber er lebte immer ein wenig in der Mesut-Welt", sagt der Mann vom DFB.

Als durch die Veröffentlichung des Fotos, das ihn und Ilkay Gündogan an der Seite des türkischen Staatschefs Erdoğan zeigte, die Geschichte der Entzweiung vom DFB begann, erfasste Özil als einer der Letzten die Brisanz des Themas.

Lange her: Der Schalker Mesut Özil, damals 18 Jahre jung, im Mai 2007 in einem Revierderby gegen Borussia Dortmund. Sein Gegenspieler damals: ein gewisser Florian Kringe. (Foto: ActionPictures / Imago)

Andererseits gab es das immer wieder, dass sich, wie im Sommer 2018 und jetzt in London, seine Sympathisanten fragten: Wie konnte das passieren? Wie konnte es so weit kommen? Wer steckt dahinter?

Schon mit seinem Heimatklub ging er damals im Dissens auseinander. Als Manager Andreas Müller im Sommer 2007 dafür sorgte, dass Ivan Rakitic vom FC Basel zum FC Schalke kam - nicht zu Unrecht, wie man Rakitics Werdegang entnehmen kann -, witterte Özils Vater Mustafa Verrat. Er fand, dass die Nummer 10, die der abgewanderte Regisseur Lincoln freigemacht hatte, unbedingt und ganz allein seinem Sohn zustünde. Am Ende des zähen Disputs erhoben Özil senior und der von ihm bestellte Berater böse Vorwürfe gegen Mitspieler und Klubleitung, und am 15. Dezember 2007 machte Özil junior, an Rakitics Seite, beim 2:1 gegen Nürnberg das letzte Spiel für Schalke; dann verkaufte ihn Müller unter Bedauern an Werder Bremen. Er hätte das Supertalent gern behalten, aber das Verhältnis zu dessen Vertretern ließ das kaum zu.

Ein Transfer, den weder Özil noch Mourinho oder Ronaldo wollten

Mustafa Özil wollte immer das Beste für seinen Sohn, darin bestand manchmal das Problem. Als Mesut Özil unter der Regie von José Mourinho bei Real Madrid spielte, entwickelte sich durch das Zutun des Vaters ein Konflikt, an dessen Schluss der Verkauf des Mittelfeldlenkers zum FC Arsenal stand - ein Transfer, den im Grunde keiner wollte. Weder Özil selbst, der sich in Madrid wohlfühlte und dort lernte, das gute Leben zu genießen, noch Mourinho oder Cristiano Ronaldo. Auch der große Superstar wusste Özils Vorlagendienste zu schätzen, auch er erkannte, was die Spieler der DFB-Elf längst wussten: Özil besaß die Gabe, die Mitspieler besser zu machen oder zumindest besser aussehen zu lassen.

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Özil, sagte der Bundestrainer Löw, sei "der einzige Spieler, der auch hinten Augen hat". Selbst der späte, schon etwas mürrische Michael Ballack erkannte das und förderte den jungen Mitspieler.

Die Vertreibung aus Madrid erfolgte, wie ein Vertrauter erzählt, weil Vater Mustafa Özil sich beim Klub darüber beschwerte, dass sein Sohn keine Freistöße schießen dürfe. Angeblich blieben die Freistöße Cristiano Ronaldo vorbehalten, da dieser einen Sondervertrag mit einem Sportkonzern unterhielt, der für 30 Ronaldo-Treffer eine Sonderprämie bezahlen würde. Nach den Protesten ordnete der stolze Klubchef Florentino Perez, so geht die Geschichte weiter, Özils Verkauf an.

Nach dem Wechsel nach London kam es zum Bruch zwischen Vater und Sohn, auch innerhalb der Familie. Mustafa Özil war draußen, die Geschäfte übernahm der promovierte Rechtsanwalt Erkut Sögüt; Mesuts Bruder Mutlu, Cousin Serdar und ein Jugendfreund blieben wie in Madrid die ständigen Begleiter und regelten das tägliche Leben mit Fahrer, Köchin, Putzdienst.

Den starken Einfluss Sögüts und dessen radikal enttäuschte Ansichten zur Behandlung der in Deutschland geborenen und lebenden Türken lernten die Spitzenvertreter des DFB dann während der Debatte um das Erdoğan-Foto kennen. Der Konflikt geriet zum Politikum erster Güte, wieder blieb unklar, wie weit die Hauptfigur inhaltlich daran teilnahm. Aber dass er der Herkunft nach einen politischen Fall darstellte, das hat Mesut Özil tatsächlich immer schon empfunden. Sein ehemaliger PR-Mann Roland Eitel erinnert sich, wie er 2012 Özil im ersten Gespräch fragte, was ihn in seinem Leben am meisten störe, und wie der neue Mandant erwiderte: "Der Begriff Deutschtürke. Ich bin in Deutschland geboren und fahre nur zum Besuch von Verwandten in die Türkei. Hast du jemals gelesen, der Deutschtunesier Khedira, der Deutschpole Podolski?"

Was Mesut Özil jetzt mit seinem restlichen Fußballerleben anfängt, darüber wird viel spekuliert. Geht es, wenn sein sagenhafter 20-Millionen-Euro-Vertrag mit Arsenal im nächsten Sommer endet, in die Türkei zu Erdoğans Lieblingsklub Basaksehir? Es wäre fast keine Überraschung mehr. Zu Schalke wird er wohl nicht mehr heimkehren, obwohl er zu seinem Jugendtrainer Norbert Elgert immer noch Kontakt hält; den hatte er sogar auf die Einladungsliste zu seiner Hochzeit gesetzt, bei der Erdoğan als Trauzeuge fungierte.

Vielleicht schaute sich Mesut Özil ja am Samstagabend das Revierderby an und dachte daran, wie alles begann im August 2005 mit dem ersten Einsatz für die königsblaue U 19 gegen RW Ahlen. Beim Gegner spielte damals übrigens ein gewisser Kevin Großkreutz.

© SZ vom 25.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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