Rüdiger beim DFB:Verteidiger in eigener Sache

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Derzeit nicht glücklich bei Chelsea: Antonio Rüdiger (Foto: imago images/PRiME Media Images)

In der Nationalelf soll Antonio Rüdiger den Abwehrchef geben, doch beim FC Chelsea wurde er ins Abseits gestellt. Gegen die Türkei tritt er ohne Spielpraxis an - ein Transfer ist gescheitert.

Von Sven Haist, London

Auf das Vertrauensverhältnis mit Joachim Löw kann sich Antonio Rüdiger verlassen. Der Bundestrainer genehmigte Rüdiger auf kurzem Dienstweg, sich erst am Dienstag bei der Nationalelf in Köln einfinden zu müssen. Dort bereitet sich das Team seit Wochenbeginn auf die Testpartie gegen die Türkei am Mittwoch vor; in den darauffolgenden Duellen mit der Ukraine und der Schweiz geht es dann um Punkte in der Nations League. Mit der Erlaubnis, verspätet anreisen zu dürfen, wollte Löw seinen Beitrag leisten, dass Rüdiger, 27, auf den letzten Drücker doch noch einen neuen Verein finden kann.

Überraschenderweise ist der deutsche Verteidiger beim FC Chelsea aus der Gunst des Trainers Frank Lampard gefallen. Trotz intensiven Bemühens und zahlreichen Offerten gelang es allerdings bis zum Ende der Wechselfrist am Montag nicht mehr, einen Transfer zu realisieren - mindestens bis Winter muss Rüdiger nun in London bleiben. Bis in die letzten Stunden wurde an einer Ausleihe zum AC Mailand oder AS Rom gearbeitet, aber die italienischen Klubs waren finanziell nicht in der Lage, das Gehalt sowie die von Chelsea gern gesehene Anschlussverpflichtung in Höhe von kolportierten 50 Millionen Euro zu stemmen. Andere Optionen? Beim FC Barcelona wäre Rüdiger nicht die Wunschlösung gewesen, ein Transfer zu Paris St. Germain scheiterte an Differenzen zwischen dem deutschen Trainer Thomas Tuchel, der Rüdiger haben wollte, und dem Klub-Sportdirektor Leonardo. Das Angebot der Tottenham Hotspur lehnte wiederum Rüdiger ab, weil der Schritt aus seiner Sicht den rivalisierenden Fans kaum zu vermitteln gewesen wäre.

In London heißt es, Rüdiger sei Lampard zu mächtig geworden

Im Sommer 2017 vom AS Rom gekommen, hatte sich Rüdiger bei Chelsea eigentlich als Stammkraft etabliert - und in der Vorsaison eine führende Rolle im unerfahrenen Team eingenommen. Bei der Direktorin Marina Granowskaja, der Statthalterin des Ölmagnaten und Klubeigentümers Roman Abramowitsch, hat Rüdiger als verlässliche und lebensfrohe Persönlichkeit eh ein Stein im Brett. Nicht zuletzt profitierte Chelsea in den vergangenen Wochen auch von Rüdigers Unterstützung, als es darum ging, den beiden heftig umworbenen Landsleuten Timo Werner und Kai Havertz einen Wechsel nach London nahezulegen. Zeitweise stand eine vorzeitige Vertragsverlängerung mit Rüdiger über 2022 im Raum. Abgesehen von Lampard möchte der Klub ihn eigentlich unbedingt halten, hätte ihm aber aufgrund der Verdienste einen kurzfristigen Abgang auch nicht verwehrt - denn für Rüdiger steht sein Stammplatz in der deutschen Abwehr bei der EM 2021 auf dem Spiel.

Als warnendes Beispiel dient ihm die Situation seines Nationalmannschaftskollegen Julian Draxler in Paris. In der hochdekorierten PSG-Offensive mit den Ausnahmespielern Neymar und Kylian Mbappé kam Draxler in der Vorsaison (auch wegen Blessuren) lediglich auf sieben Startelf-Einsätze in der Liga, auf dem Weg ins Finale der Champions League spielte er kein einziges Mal von Beginn an. Das wirkte sich auf seine Spielzeiten für Deutschland aus: Nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 war er im Nationalteam zwei Jahre lang nicht mehr in der Anfangs-Elf zu finden. Im September legte ihm dann Bundestrainer Löw öffentlich einen Vereinswechsel nahe. Die ständigen Nachfragen zur Zukunft, die Draxler begleiten, möchte Rüdiger sich selbst und Löw gern ersparen.

Doch in Chelseas interner Rangliste ist Rüdiger als Abwehrchef hinter dem renommierten Zugang Thiago Silva sowie Andreas Christensen, Kurt Zouma und Fikayo Tomori an die fünfte Stelle zurückgefallen. In den vorigen Wochen kam Rüdiger in keinem der sechs Pflichtspiele zum Einsatz, zuletzt stand er fünf Mal hintereinander gar nicht im Kader. Ohne jede Spielpraxis stößt Rüdiger also zur Nationalelf, in der er neben Niklas Süle vom FC Bayern in der Innenverteidigung fest eingeplant war. Löw besitzt zwar in Emre Can (Dortmund), Matthias Ginter (Mönchengladbach) sowie Niklas Stark (Hertha), Robin Koch (Leeds United) und Jonathan Tah (Leverkusen) einige Alternativen - aber an Rüdigers internationales Renommee auf dieser Position kommt keiner der Kandidaten heran. Mit 1,90 Metern Körpergröße ist er kopfballstark, durchsetzungsstark in den Zweikämpfen, und auch seine Explosivität kommt der Mannschaft zugute.

Der Ausflug zum Nationalteam mit drei Länderspielen innerhalb einer Woche bietet Rüdiger jetzt nicht bloß Abwechslung vom tristen Dasein als Ersatzspieler in London, sondern in erster Linie die Chance, auf sich aufmerksam zu machen. Hinter vorgehaltener Hand gilt es als offenes Geheimnis, dass die Missachtung von Rüdiger weder auf sportlichen Gründen noch auf einem persönlichen Disput basiert - Rüdiger soll Lampard im Team schlicht zu einflussreich geworden sein. Auf nahezu identische Art, wie es Rüdiger nun erlebt, hatte Lampard - quasi mit seiner ersten Amtshandlung als neuer Trainer bei Chelsea vor einem Jahr - auch den tonangebenden Abwehrstrategen David Luiz unsanft aus dem Verein gedrängt. Kurz vor Saisonbeginn flüchtete Luiz damals zum Schnäppchenpreis von knapp zehn Millionen Euro zum Stadtrivalen FC Arsenal.

Ob das alles so klug ist, sei dahingestellt. Doch in seiner bisherigen Chelsea-Zeit ist Lampard schon häufiger durch unstete Personalentscheidungen aufgefallen. Bisher ist es ihm nie wirklich gelungen, eine eingespielte Mannschaft zu formen, auch, weil er Spieler manchmal für Fehler direkt mit einer Nichtnominierung zu bestrafen scheint. Nicht umsonst mangelt es Chelsea auffällig an Führungsspielern.

Beim beliebten Rüdiger ist die Gefahr allerdings groß, dass Lampards rigide Maßnahmen für Unruhe im Team sorgen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Lampard bald gezwungen sein wird, wieder auf Rüdiger zu setzen, um die Ziele des Klubs - und damit seine eigene Trainerposition - nach den Großinvestitionen in den Kader im Sommer nicht zu gefährden.

© SZ vom 07.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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