Angelique Kerber:Neben die Kissen

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Dass die Titelverteidigerin schon in der ersten Runde von New York an der erst 19-jährige Naomi Osaka aus Japan scheitert, hat auch mit einem Muster in ihrem Spiel zu tun.

Von Jürgen Schmieder, New York

Gegen Ende des ersten Satzes durften die Zuschauer im Arthur Ashe Stadium drei typische Angelique-Kerber-Ballwechsel nacheinander bestaunen. Ihre Gegnerinnen fürchten diese Momente, gerade bei geschlossenem Dach in der riesigen Arena, weil der Lärmpegel dann dieser wahnwitzigen Welle vor Tahiti gleicht, die bedrohlich anschwillt und dann laut bricht. Kerber hetzt bei diesen Ballwechseln von einer Ecke des Platzes zur anderen, sie wehrt Angriffe geduldig ab - und kurz bevor sie von der Welle weggespült wird, geht sie tief in die Knie und schickt den Ball auf die andere Seite des Netzes, als würde dort ein Kissen als Zielscheibe liegen.

Das Verblüffende an diesem Nachmittag aber war, dass nicht Kerber diese drei typischen Kerber-Ballwechsel gewann, sondern ihre Gegnerin Naomi Osaka aus Japan. Zuerst prügelte die farbenfreudig gekleidete Tochter eines Haitianers eine Rückhand ins rechte Eck, dann konterte sie einen ordentlichen Angriff von Kerber mit einem Vorhand-Passierschlag, schließlich beendete sie einen spektakulären Ballwechsel mit zwei krachenden Vorhandschlägen. Der Lärm in der Arena war beinahe unerträglich laut, Kerber stand an der Grundlinie und sah aus, als wäre sie von einer Welle an den Strand von Teahupo'o gespült worden. Kurz darauf hatte sie den ersten Satz verloren, nur eine halbe Stunde später die ganze Erstrundenpartie, 3:6, 1:6.

Wirkte in New York verkrampft und am Ende auch resigniert: Angelique Kerber. (Foto: Frank Franklin/dpa)

Wer beim Tennis verliert, der muss nach Hause fahren. Das ist nun wahrlich keine bahnbrechende Erkenntnis, führt jedoch dazu, dass eine Spielerin nur dann ausreichend Matchpraxis bekommt, wenn sie bei einem Turnier ein paar Partien gewinnt. Man kennt das von Kerber, die notorisch Probleme bei Erstrundenspielen hat. "Es gibt einige Dinge an meiner Spielweise, die entwickeln sich erst durch das Selbstvertrauen, das man in Matches sammeln kann", sagte Kerber nach ihrer Niederlage in New York: "Ich fühle mich gut, ich trainiere gut - ich brauche einfach nur mehr Partien." Das klingt freilich wie ein glückloser Stürmer, der eine Serie an Toren verspricht, wenn er nur bald mal wieder einen Treffer erzielt.

Kerber spielt 2017 längst nicht so präzise, wie sie das vor zwölf Monaten tat

Kerber hat im vergangenen Jahr eine tolle Siegesserie hingelegt und ist zur besten Tennisspielerin der Welt aufgestiegen. Sie hat ihre Gegnerinnen zermürbt mit diesen typischen Kerber-Ballwechseln und der damit verbundenen Botschaft: Wer gegen sie einen Punkt trotz Überlegenheit nicht konsequent zu Ende spielt, der wird ihn verlieren. Viele Gegnerinnen fürchteten sich derart vor diesen aggressiven Kontern, dass sie im Bestreben, besonders genau zu spielen, oftmals selbst Fehler begingen.

Um zu verstehen, was da gerade mit Kerber passiert, warum sie in dieser Saison noch kein Turnier gewonnen hat und nun bei den US Open in der ersten Runde gescheitert ist, braucht es keine sportgrundsätzliche oder tiefenpsychologische Analyse. Es genügt, sich mit Patrick Mouratoglou zu unterhalten, dem Trainer der derzeit schwangeren Serena Williams - und danach diese Partie gegen Osaka noch einmal in aller Ruhe zu betrachten. "Eine Gegnerin kann oft vorhersehen, wohin Kerber einen Ball spielen wird", sagt Mouratoglou: "Sie müssen sich vorstellen, dass auf dem gesamten Platz Kissen in verschiedenen Farben verteilt sind. Wenn die Gegnerin einen Ball auf das blaue Kissen spielt, dann kann sie davon ausgehen, dass der Rückschlag oft genau dorthin kommen wird, wo auf der eigenen Seite des Netzes ein blaues Kissen liegt. 2016 spielte Kerber ihre Bälle oftmals derart präzise und hart, dass viele Gegnerinnen keine Chance hatten, obwohl sie die Position ahnen konnten." Es ist wie bei einem Boxer, der seinem Gegner mitteilt, ihm gleich auf die Nase zu schlagen - und danach genau die Nase trifft.

Vor einem Jahr eilte sie hier von Sieg zu Sieg, nun musste Angelique Kerber auf der Pressekonferenz in New York ihre Erstrunden-Niederlage erklären. (Foto: Javier Rojas/dpa)

Wer die Partie gegen Osaka mit den Hinweisen von Mouratoglou betrachtet, der erkennt tatsächlich einige Muster. Aggressiver Ball auf die Rückhand: in möglichst hartem Winkel kurz cross. Hoher Ball auf die Vorhand: aggressiver Longline-Grundschlag. Harter Aufschlag: Block zur Mitte, um extreme Winkel zu verhindern. Gegen Osaka schienen aber keine farbigen Kissen auf dem Platz zu liegen, sondern Bettlaken. Kerber spielt 2017 nicht so präzise, wie sie das vor zwölf Monaten tat, also haben ihre Gegnerinnen eine Chance.

Die Saison vorzeitig beenden, wie das etwa Novak Djokovic tat, das möchte sie nicht

Kerber ist eine Defensiv- und Konterkünstlerin, hat jedoch aufgrund ihres eher unterdurchschnittlichen Aufschlages und der häufig nur geblockten Returns bisweilen Probleme, danach einen Ballwechsel zu dominieren und konsequent zu Ende zu spielen. Sie verlässt sich auf ihre außerordentliche Fitness und die Präzision ihrer Konterschläge; wenn bei beiden Aspekten allerdings auch nur ein paar Prozent fehlen, wird es gefährlich für sie, auch gegen scheinbar schwächere Gegnerinnen. Gegen Naomi Osaka fehlten mindestens 20 Prozent, Kerber schaffte insgesamt nur neun Gewinnschläge und leistete sich 23 Fehler ohne Bedrängnis. Sie wirkte verkrampft und am Ende auch resigniert.

Das führt zu einer weiteren Aussage von Mouratoglou, der freilich auch seine Klientin ein bisschen loben möchte. "In dem Moment, in dem Serena was erreicht, vergisst sie, was sie gerade erreicht hat", sagt er: "Was bringt einem eine Trophäe, die man gewinnt? Die kann man angucken und den Leuten zeigen, aber letztlich ist das nur Vergangenheit. Serena ist nie zufrieden, weil es nie genug ist." Natürlich ärgert sich Kerber über diese Niederlage, natürlich hat sie sich Ziele gesteckt - doch so hungrig, so aggressiv, so selbstbewusst wie bei den vergangenen US Open wirkte sie diesmal nicht. Es mögen nur ein paar Prozentpunkte sein, doch die bedeuten bei Kerbers Spielweise den Unterschied zwischen Erfolg und Erstrunden-Niederlage.

Die Spielfreude ihrer japanisch-haitianischen Gegnerin Naomi Osaka raubte der frustrierten Deutschen jeden Mut. (Foto: Elsa/AFP)

Sie will nun erst einmal nach Hause fahren, runterkommen und ein bisschen abschalten. Die Saison vorzeitig beenden, wie es etwa Novak Djokovic getan hat, möchte sie nicht. "Ich brauche unbedingt Matches, um meinen Rhythmus wiederzufinden. Ich glaube weiterhin an mich und werde stärker zurückkommen." Sie will diese verlorenen Prozentpunkte selbst finden. Aus Bettlaken auf der anderen Seite des Netzes sollen wieder Kissen werden, und aus einer Welle, die einen fortspült, wieder eine, die einen trägt. Dann will Kerber auch die typischen Kerber-Ballwechsel wieder für sich entscheiden.

© SZ vom 31.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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