Es ist nur eine sehr theoretische Übung, doch wenn man sich bei Celtic-Glasgow-Trainer Angelos Postecoglou, 57, erkundigt, was ihm denn wohl sein Lehrmeister für das Champions-League-Spiel bei RB Leipzig raten würde, dann zögert er keine Sekunde mit der Antwort: "Ein Tor mehr zu schießen als der Gegner."
Postecoglous Lehrmeister war Ferenc Puskas, der vielleicht technisch feinste Torjäger der Fußball-Geschichte. In Madrid wird von Generation zu Generation noch immer das Geraune vererbt, das damals in der Real-Kabine herrschte - als der Ungar übergewichtig zum spanischen Rekordmeister stieß, doch die Skeptiker verstummen ließ, indem er unter der Dusche ein Stück Seife auf dem linken Spann jonglierte. "Ange", wie Postecoglou genannt wird, hat mindestens ebenso viel vom 2006 verstorbenen Puskas zu erzählen wie die Madrilenen. Denn der gebürtige Grieche hat am anderen Ende der Welt mit Puskas zusammengearbeitet. In Australien.
Als er fünf war, wanderten Postecoglous Eltern dorthin aus - auf der Flucht vor schwierigen wirtschaftlichen Zeiten ihres Landes, das nach dem Putsch von 1967 in die Hände faschistischer Militärs gefallen war. Australien hatte seinerzeit Einwanderprogramme für Europäer. Postecoglous Vater, ein Tischler, schlug zu und stach in See. "Wir waren 30 Tage auf einem Schiff unterwegs", sagt der Celtic-Coach am Telefon.
Celtic-Coach Postecoglou ist viel herumgekommen im Fußball - genauso wie Ferenc Puskas
Dass Postecoglou im Fußball Karriere machte, ist mindestens kurios. Fußball war und ist in Australien nicht der populärste Sport - außer in den Einwanderermilieus. "Ich muss sieben oder acht gewesen sein, als mein Vater mich in einem Klub anmeldete, der von Griechen gegründet worden war", erzählt Postecoglou. Er machte sich als Kicker gut genug, dass er in den 1980er-Jahren in einer halbprofessionellen Liga Australiens oberklassig spielte. Geld verdiente er sich zunächst als Versicherer und Banker. "Das war eine große Motivation, um Fußballer zu werden", sagt er lachend. Und dann kam 1989 eben dieser berühmte Puskas nach Australien.
Der legendäre Major, Anführer der ungarischen Wundermannschaft der 1950er-Jahre, Stürmer bei Honved Budapest und ab 1956 bei Real Madrid, war damals schon am Ende einer erratisch anmutenden Trainerkarriere, die ihn zuvor von Spanien nach Kanada, in die USA, nach Chile, Saudi-Arabien, Ägypten, Paraguay und auch schon nach Griechenland geführt hatte.
Die Verantwortlichen des FC South Melbourne, bei dem Postecoglou als Außenverteidiger spielte, boten ihm den Trainerposten an, Puskas nahm an. Postecoglou beteuert, dass er nicht der einzige in Australien gewesen sei, der mit dem Namen Puskas etwas anfangen konnte, von dem ihm der Vater wahre Wunderdinge oder wundersame Wahrheiten erzählt hatte, wie man es nimmt: "Alle Einwanderer wussten, wer Puskas war. Das sorgte plötzlich für ein Rieseninteresse an unserem Klub", erzählt Postecoglou, der in diesem Klub fortan eine besondere Stellung einnahm.
Denn Puskas "sprach kaum Englisch", so Postecoglou, "aber ganz vernünftig Griechisch" - seit einem dreijährigen Trainer-Engagement bei Panathinaikos Athen, dessen Team er ins Finale des Europapokals der Landesmeister geführt hatte (0:2 gegen Ajax Amsterdam). "Wir hatten deshalb eine sehr enge Verbindung", sagt Postecoglou. Er wurde in Australien Puskas' Chauffeur und Übersetzer, und er klebte an seinen Lippen, weil er schon als Kind alles über Fußball aufgesogen, die Geschichte studiert und alles gelesen hatte, was ihm in die Finger kam. Und in den Geschichtsbüchern des Fußballs ist der Name Puskas einer derjenigen, die in goldenen Lettern verewigt sind.
Der Eindruck, den Puskas machte, ist nicht vergangen. "Sie können sich nicht vorstellen, was für ein großartiger Mensch er war - wie demütig und respektvoll, obwohl er wirklich alles im Fußball erreicht hatte", erzählt Postecoglou. Auch fußballerisch prägte ihn Puskas: "Er liebte Angriffsfußball. Ihm war es egal, drei oder vier Tore zu kassieren, solange wir ein Tor mehr schossen als der Gegner."
Puskas habe geglaubt, Fußball sei dazu da, um die Zuschauer zu unterhalten. Daran glaube er auch, sagt Postecoglou, der in Australien, Griechenland und Japan als Coach arbeitete und die Socceroos zur WM 2014 in Brasilien führte, bevor er in Glasgow landete. Bei den Celtic-Fans kommt er mit seiner Philosophie gut an, sie bieten ihm regelmäßig ein umgedichtetes Weihnachtslied dar: "Last Christmas/I gave you my heart/but the very next day/you gave it away./This year/to save me from tears,/I'll give it to Postecoglou", singen sie zur Melodie des Wham!-Klassikers.
Er kenne Postecoglou zwar nicht näher, sagte Leipzigs Trainer Marco Rose am Dienstag, "aber ich schaue bei Celtic-Spielen gern zu. Das ist eine spielaktive Mannschaft, und keine, die sich hinten reinstellt." Das lässt sich auch mit Zahlen unterfüttern: Celtic wurde in der vergangenen Saison mit sechs Punkten Vorsprung auf die Rangers und mit einer Tordifferenz von plus 59 schottischer Meister (Rangers: plus 40). Aktuell steht Celtic wieder an der Spitze der Tabelle, mit einer Tordifferenz von plus 23.
"Es gibt mehr Daten, neue Tools, mehr Mittel, neue wissenschaftliche Erkenntnisse", sagt Postecoglou, "insofern kann man sagen: Ja, der Fußball hat sich verändert. Aber nicht in seiner Essenz. Was uns heute anturnt, ist das, was uns auch damals anturnte: Tore schießen." Unter den aktuell besten zehn Torschützen der schottischen Liga sind drei Celtic-Spieler: Kyogo Furhashi (sieben), der mit Japan an der WM teilnehmen dürfte, der Israeli Liel Abada (sechs) und der Portugiese Jota (vier).
Allerdings: Bei ihrem Champions-League-Comeback nach fünf Jahren gingen die Schotten leer aus: Im Heimspiel gegen Real Madrid - das Team, das Puskas zum Unvergänglichen machte - verloren "The Bhoys" 0:3. Danach holte Celtic ein 1:1-Unentschieden bei Schachtjor Donezk.
RB Leipzig ist in Europa noch schlechter gestartet und sogar noch punktlos nach dem 1:4 gegen Donezk und dem 0:2 bei Real. Dennoch sieht Postecoglou die Sachsen als große Herausforderung an. "Wo wir landen? Wer weiß", sagt er, "wir wollen unseren Fußball zeigen, dann sehen wir weiter." Das gilt wohl auch für ihn persönlich: Er wird bereits als Kandidat für Premier-League-Teams wie Leicester oder Wolverhampton gehandelt. Und, sollte Jürgen Klopp eines Tages weichen, sogar als dessen Nachfolger in Liverpool.