Andy Murray:Das Motzen des Leichenbestatters

Lesezeit: 3 min

Volle Körperspannung schon in Runde eins: Andy Murray war beim Auftaktsieg gegen Yoshihito Nishioka viereinhalb Stunden lang gefordert. (Foto: Al Bello/AFP)

Der Schotte geht auch bei den US Open seiner Lieblingsbeschäftigung nach.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Eine Geschichte über Andy Murray muss wohl beim Wrestling beginnen, der Showsportart der Schaumschläger und Volksbespaßer. Es gab da mal einen Typen, der hieß Undertaker, Leichenbestatter; an bedeutsamen Kampfabenden wurde er häufig vermöbelt und in einen Sarg gesteckt. Das Publikum johlte, es kannte ja die Dramaturgie: Irgendwann, wenn keiner mehr damit rechnet, würde er auferstehen und in die erschrockenen Gesichter der Gegner blicken, und dann würde er diese Geschichte vom Doch-noch-Gewinnen erzählen. Videos vom sich erhebenden Undertaker sind längst ein fester Bestandteil der Popkultur und der Sozialen Medien.

Murray, 33, erinnert so gesehen an diesen Undertaker, er hat am Dienstag zum zehnten Mal in seiner Karriere einen 0:2-Satzrückstand aufgeholt und noch gewonnen; das haben vor ihm nur Boris Becker, Aaron Krickstein (USA) und Roger Federer (Schweiz) geschafft. Gewöhnlich johlen die Leute bei Murray ebenfalls, wenn sie die Anzeichen für eine Rückkehr ins Match entdecken: Der Brite motzt, vor allem über sich selbst, und er setzt so eine Energie frei, die andere Sportler implodieren lässt, bei Leuten wie Murray aber für zusätzliche Kraft und Konzentration sorgt.

Allerdings hat es Murray diesmal ein bisschen übertrieben gegen den Japaner Yoshihito Nishioka; der Spielverlauf würde selbst beim Catchen als unglaubwürdig gelten: Murray erhob sich gleich mehrere Male aus dem Sarg.

Nishioka hatte die ersten beiden Sätze gewonnen und führte mit einem Break im dritten. Murray motzte und kam zurück. Nishioka hatte im vierten Satz einen Matchball, Murray schimpfte und parierte. Nishioka führte im finalen Durchgang mit einem Break - Murray erhob sich und gewann diese Partie nach mehr als viereinhalb Stunden 4:6, 4:6, 7:6 (5), 7:6 (4), 6:4.

Das wirklich Fantastische an Murray ist freilich, dass er abseits dieser Comebacks so was von gar nichts mit den Schaumschlägern vom Wrestling gemein hat. Murray analysiert solch unvergessliche Partien am Dienstag, wie ein Vater ein Tischtennismatch gegen seinen Sohn analysieren würde. Auf die erste Frage beim Videogespräch mit Journalisten, als es erst mal um seine Gefühle ging, sagte er: "Ja, das war jetzt nicht unbedingt die beste Partie meines Lebens. Ich habe zunächst überhaupt keine Balance gefunden: Ich war entweder zu vorsichtig und habe ihn die Ballwechsel diktieren lassen, oder ich war zu forsch und habe Fehler gemacht. Ich kann besser spielen. Aber körperlich war es okay."

Man muss dazu wissen: Murray plagt sich seit Juni 2013 mit Rücken und Hüfte. Er ist mittlerweile derart häufig operiert worden, dass Metalldetektoren Alarm schlagen, wenn er sie passieren möchte. Anfang 2019 deutete er das Ende der glanzvollen Laufbahn (drei Grand-Slam-Siege, zwei Goldmedaillen bei Olympia) an. Nach einem typischen Murray-Comeback bei den Australian Open gegen Roberto Bautista Agut, das er allerdings verlor, flackerten bereits Abschiedsgrüße von Kollegen wie Federer, Novak Djokovic und Caroline Wozniacki über die Leinwände.

"Ich war in den vergangenen drei Jahren häufig schlecht gelaunt, ich hatte andauernd Schmerzen und wusste nicht, ob ich so noch Tennis spielen wollte", sagt Murray nun über diese Zeit, in der er bisweilen Probleme hatte, sich selbst Socken und Schuhe anzuziehen: "Die Lebensqualität hat sich nun deutlich verbessert, ich bin deshalb auch besser gelaunt." Ist es möglich, dass die Pandemie, so schrecklich sie für die gesamte Welt auch sein mag, Murray ein klein wenig geholfen hat? Er hatte ja seit der Niederlage gegen Bautista Agut kein Grand-Slam-Einzel mehr gespielt, nun jedoch war Pause, für alle.

Murray konnte jedenfalls in aller Ruhe trainieren, er konnte sich auch Pausen gönnen, die er wohl dringend brauchte. Beim Masters-Turnier in New York vor den US Open bestritt er seine ersten offiziellen Partien in diesem Jahr, er besiegte Frances Tiafoe (USA) und rang Alexander Zverev trotz Break-Rückstands im finalen Durchgang nieder. "Ich vermisse die großen Events", sagte er in der vergangenen Woche: "Ich weiß nicht, wie viele große Turniere ich angesichts meiner Verletzungen noch werde spielen können."

Die Auferstehung von Murray war am Dienstag auch deshalb noch packender, weil sie nicht von johlenden New Yorkern begleitet wurde, sondern von Kollegen, die mit fortschreitender Matchdauer immer zahlreicher auf den Balkonen erschienen: Dominic Thiem zum Beispiel, Naomi Osaka, auch Murrays Bruder Jamie: "Normalerweise suche ich in solchen Momenten Blickkontakt zu Zuschauern. Das geht ja nun nicht. Es hilft deshalb, ein paar bekannte Gesichter zu sehen", sagte Murray.

Anschließend sprach er noch augenzwinkernd über seine körperliche Verfassung ("Ich habe einen Notfall angemeldet, weil man nur dann in die Eiswanne darf"), weshalb eine Geschichte über Murray auch mit dem unvergessenen Comic enden muss, in dem Charlie Brown seinem Hund mitteilt: "Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy." Dessen Antwort: "Stimmt, aber an allen anderen Tagen tun wir das nicht." Eines Tages wird auch Murray seine Karriere beenden. Aber an allen anderen Tagen ...

© SZ vom 03.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: