Ajax nach der Niederlage:Was bleibt, ist der Schmerz

  • Nach 2:0-Führung scheidet Ajax durch ein Tor in der 96. Minute gegen Tottenham aus der Champions League aus.
  • Der Sieg der Londoner ist verdient - trotzdem ist es das wohl brutalste Aus nach einer fantastischen Champions-League-Saison.
  • Die Mannschaft wird wohl auseinanderfallen. Falls Trainer ten Hag bleibt, muss er ein neues Team aufbauen.

Von Benedikt Warmbrunn, Amsterdam

Die letzten Sekunden waren vorbei, im Grunde war alles vorbei, nur der Schmerz, der kam erst. Schiedsrichter Felix Brych gab noch ein paar Extrasekunden an Spielzeit. Die Spieler von Ajax Amsterdam schleppten sich noch einmal zur Mittellinie, unter dem Applaus der Johan-Cruyff-Arena. Es war ein Applaus der Dankbarkeit für eine Saison, die so keiner erwartet hatte, für ein paar sehr beschwingte Wochen im Frühling. Es war ein Applaus, der die Traurigkeit erst gar nicht zu groß werden lassen sollte. Doch die Spieler von Ajax, sie gingen bereits geknickt.

Nur einer wollte noch nicht glauben, dass alles vorbei ist, er wollte nicht dankbar sein, er wollte auch nicht, dass es so kommt, wie es nun alle erwarteten. Trainer Erik ten Hag hüpfte an der Seitenlinie auf und ab, die Zeigefinger kreisten durch die Luft, er versorgte sein Team noch einmal mit taktischen Anweisungen. Nur ein paar Sekunden noch in der Nachspielzeit, aber auch ein paar Sekunden können reichen.

Erik ten Hag hatte dies selbst erfahren - und erlitten, wenige Augenblicke zuvor, beim Tor zum 3:2 in der 96. Minute für Tottenham Hotspur, das so scharf und gnadenlos trennte: Der gefühlt bereits erreichte Ajax-Einzug ins Champions-League-Finale - eingetauscht gegen ein bitteres Aus. Auch den Schmerz, der in den nächsten Stunden folgte, kannte ten Hag bereits. Daher wollte er ihn unbedingt vermeiden.

Ajax spielte nach vorne, es war ein unwirkliches Spiel, vielleicht sollte ja noch eine letzte Überraschung gelingen. Der Angriff misslang. Es blieb der Schmerz.

Am Mittwoch war das Mitleid mit dem unterlegenen Halbfinalisten ähnlich groß wie der Respekt für den Finalisten, selten ist das so der Fall. Tottenham hatte dieses erbarmungslose 3:2 in der zweiten Halbzeit erzwungen, es war nicht unverdient. Doch diese junge Ajax-Mannschaft hatte in den vergangenen Monaten begeistert, nicht nur den eigenen Anhang, mit zwei Unentschieden gegen den FC Bayern, mit dem Weiterkommen im Achtelfinale gegen Real Madrid, dem Weiterkommen im Viertelfinale gegen Juventus Turin. Und sie hatte sich eben nicht durch diesen Wettbewerb geschummelt, sie war trotz ihrer Jugend vielleicht die Mannschaft mit der besten Spielidee. Auf jeden Fall hatte sie die schönste Spielidee. So war das in einzelnen Momenten auch am Mittwoch, zum Beispiel beim 2:0 durch Hakim Ziyech, herausgespielt durch all das, was Ajax in dieser Saison auszeichnet: Schnelligkeit, Frechheit, viel Glaube an das eigene Spiel. "Ich bin wahnsinnig stolz auf meine Mannschaft", sagte ten Hag, "wir haben es so weit gebracht, wir haben uns so toll entwickelt, das war schön zu sehen." Er sagte aber auch: "Fußball kann grausam sein. Heute haben wir den Fußball von seiner grausamen Seite gesehen."

Es ist eine Seite, die der Trainer bereits ganz gut gekannt hat.

2014 hatte er in seiner ersten Saison in München den FC Bayern II ins Finale um den Aufstieg in die dritte Liga geführt. Seine Mannschaft hatte die beste und die schönste Spielidee der Regionalliga Bayern. Auch im Playoff gegen Fortuna Köln war das Team dominant, führte 2:0, es lief die 94. Minute, auf der Bank feierten sie den Aufstieg. Nur ten Hag nicht. Die letzten Sekunden. Der Trainer sah, dass ein langer Ball auf seinen Torwart Lukas Raeder zuflog, das musste es jetzt gewesen sein. Raeder rutschte der Ball durch die Hände, das Tor zum 1:2. Köln war aufgestiegen. Die besten Spieler verließen den FC Bayern II, in ten Hags zweitem Jahr reichte es nicht für die Aufstiegsspiele. Ten Hag ging, ein bisschen frustriert, nach Utrecht.

Der 49 Jahre alte Trainer kennt also die Schmerzen, die seine Spieler am Mittwoch spürten, er weiß, dass dieser Schmerz auch in den nächsten Tagen nicht nachlassen wird. "Wir müssen weitermachen", sagte ten Hag, "nicht in den nächsten Stunden, das kann ich nicht erwarten." Aber allzu lange sollte der Schmerz seine Elf nicht ablenken. Zwei Spieltage vor Schluss ist Ajax in der heimischen Liga Tabellenführer, aber nur dank des besseren Torverhältnisses gegenüber Eindhoven.

Er selbst, hat ten Hag vor wenigen Wochen gesagt, beschäftige sich mit einem Sieg nur noch am selben Abend. Bei einer Niederlage grübelt er länger. Und auch er wird gesehen haben, dass Ajax in der zweiten Halbzeit weit weg war von dem tänzerischen Fußball der vergangenen Wochen. Ten Hag, der sonst bevorzugt Offensivspieler einwechselt, versuchte am Mittwoch mit seinen Wechseln die Defensive zu stärken, es ging 95 Minuten lang gut. Die Kritik an ihm kam sofort. José Mourinho sagte in seiner Rolle als TV-Experte im portugiesischen Fernsehen, dass er ten Hag "zu 99 Prozent Anerkennung zollen" müsse. Über die zweite Halbzeit von ten Hag sagte Mourinho aber: "Ich glaube, er hat es wie seine Mannschaft gemacht - nicht besonders gut." Genau dieser eine Prozentpunkt wird auch ten Hag beschäftigen, er weiß ja, dass er mit seinem Team eine wohl einmalige Chance verpasst hat.

Nun, da das große Ziel, das Finale in der Champions League, verfehlt ist, wird es nicht lange dauern, bis ten Hag einer Mannschaft, die ihre beste Zeit eigentlich noch vor sich hat, beim Auseinanderfallen zusehen kann. Frenkie de Jong wechselt nach Barcelona, dorthin folgt ihm wohl auch Matthijs de Ligt, der Kapitän und Torschütze zum 1:0 am Mittwoch; für die Außenbahndribbler Ziyech und David Neres sowie für Donny van de Beek gibt es ebenfalls Interessenten. Im Sommer wird ten Hag also wieder eine Mannschaft neu einstellen müssen, eine Mannschaft, die gegen die bittere Erinnerung anspielt, und wieder wird der Trainer nicht wissen, ob sie noch einmal so gut werden kann wie vor den Schmerzen.

Zur SZ-Startseite

MeinungChampions League
:Lasst uns den Wahnsinn!

In vier kaum fassbaren Spielen beweist der Fußball, welche Kraft in ihm steckt, wenn man dem Irrationalen vertraut. Wer eine Super-Liga erschaffen will, der zerstört das Besondere.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: