Amine Harit:Vom Musterprofi zum Problemprofi und zurück

Sport Bilder des Tages Gelsenkirchen, 20.09.2019 Schlussjubel: Amine Harit (S04) FC Schalke 04 - FSV Mainz 05 DFL regula

"Es kam von innen", sagte der Schütze Amine Harit, 22, nach seinem 2:1-Siegtreffer gegen Mainz.

(Foto: Moritz Müller/imago)

Besonders die Leistung des Amine Harit hat Schalke 04 stimuliert. Im Winter disziplinarisch noch außer Rand und Band, gewinnt der Offensivspieler beim Revierklub jetzt schon wieder die Beliebtheitswahlen.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Anfang des Jahres war der Punkt erreicht, an dem die Verantwortlichen des FC Schalke 04 meinten, die Konsequenzen ziehen zu müssen. Es ging um den Spieler Amine Harit, von dem es hieß, er sei "privat außer Kontrolle" und stelle eine Gefahr für den Betriebsfrieden dar. Ein paar Monate zuvor hatte Harit, heute 22 Jahre alt, noch als die große Entdeckung gegolten, bei der Wahl der Deutschen Fußball Liga (DFL) zum Jungstar der Saison ließ er Spieler wie Jadon Sancho, Benjamin Pavard und Sébastien Haller hinter sich. Nun aber waren die zuständigen Herrschaften am Ernst-Kuzorra-Weg 1 entschlossen, den Jungstar zu verkaufen, ausnahmsweise nicht deshalb, weil der Verein gerade mal wieder dringend das Geld brauchte, sondern weil man den guten Glauben an den hochbegabten Spieler verloren hatte. Vereine aus England zeigten Interesse, zogen sich aber wieder zurück, als sie hörten, was der junge Mann kosten sollte: Schalke richtete seine Preisvorstellungen nach dem Kurswert, den Harit im Sommer hatte, als er noch ein verheißungsvolles und vor allem unbescholtenes Talent war.

Er glänzt als entschlossener Spielentscheider

Inzwischen dürfen sich die Schalker dazu gratulieren, dass ihre Funktionäre im Januar mit frechen Forderungen die Kundschaft vergrault hatten: Das Nichtgeschäft mit Harit ist wahrscheinlich das beste Geschäft, das dem Verein seit Langem geglückt ist. Der im westfranzösischen Nantes geborene marokkanische Nationalspieler, der im Winter noch außer Rand und Band zu sein schien, gewinnt jetzt wieder Beliebtheitswahlen. Im August bestimmten ihn die Fans zum "Schalker des Monats", und wenn nicht noch etwas Umwerfendes geschieht - zum Beispiel ein Hattrick von Guido Burgstaller am Samstag beim Tabellenführer in Leipzig -, dann werden sie das im September wieder tun. Harit glänzt neuerdings nicht mehr bloß als Techniker, Dribbelkünstler und Vorbereiter, sondern auch als entschlossener Spielentscheider: Zwei Tore beim 5:1-Sieg in Paderborn und der Siegtreffer beim 2:1 gegen Mainz - ein Kunstschuss erster Güte - beförderten ihn so sehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, dass sich seine Vorgesetzten zum Eingreifen aufgefordert fühlten - sie verhängten eine Schutzsperre. Interviews mit Harit finden vorerst nicht mehr statt.

Am vorigen Wochenende aber hat Harit noch zu den Reportern gesprochen, auf Englisch und auf Deutsch und mit erkennbarem Vergnügen. Selbstverständlich berichtete er von seinem Tor, dessen Ursprung Trainer David Wagner in einem "genialen Moment" lokalisiert hatte. "Es kam von innen", präzisierte der Schütze. Er sah die Lücke zwischen den gegnerischen Beinen, und weil er nicht mit links schießen konnte, trat er den Ball mit dem rechten Außenrist, ein artistisches Manöver, das vermutlich viele Bundesligakollegen in Verletzungsgefahr gebracht hätte.

Es sei "das wichtigste und schönste Tor meiner Karriere" gewesen, sagte Harit, bevor er einräumte, dass die Auswahl überschaubar sei: "So viele Tore waren es bisher ja nicht." In den ersten beiden Bundesligajahren gelangen ihm vier Treffer in 49 Einsätzen. Unter anderem an der Abschlussquote müsse man noch arbeiten, sagt Trainer David Wagner. Aber sonst sei schon vieles prima, "Amine ist ein wahnsinnig spannender, talentierter Spieler".

Als Wagner im Sommer nach Gelsenkirchen kam, hatte er einiges über Amine Harit gehört, Gutes und weniger Gutes. Bevor er mit seiner neuen Mannschaft zum ersten Training auf den Platz ging, nahm er Harit für ein ernstes Gespräch beiseite. In Sachen Fußball gebe es keinen Redebedarf, sagte der Trainer zum Spieler, der ungefähre Wortlaut sei folgender gewesen: "Fußballerisch brauche ich dir nichts zu erzählen. Deine Probleme liegen außerhalb des Platzes, die musst du in den Griff kriegen." Die beiden verabredeten, sich ein paar Wochen später mit neuen Erkenntnissen zu einem weiteren ernsten Gespräch zu treffen. "Aber dazu ist es nie gekommen", sagt Wagner. Es war, so fand er, einfach nicht mehr nötig. "Aufgeweckt, aufgeschlossen, fröhlich, ein junger Mann und Familienvater, der Witz und Charme hat" - Wagner zeichnet das Bild des idealen Schwiegersohns.

Wie er nach einem schrecklichen Unfall aus der Bahn geriet

Vom Musterprofi und Publikumsliebling zum Problemprofi und zurück - an dieser segensreichen Rückverwandlung hätten viele Menschen mitgewirkt, sagt der Trainer, "aber den größten Anteil hat Amine". Die Besinnung auf das Wesentliche war Harit während der vergangenen Saison abhandengekommen, als es für den Franko-Marokkaner nicht mehr nur ums Fußballspielen ging, sondern um Themen, die er nicht mehr so einfach beherrschen konnte wie den Ball. Im Sommer 2018 hatte Harit in Marrakesch einen Autounfall gehabt, bei dem ein Fußgänger ums Leben kam. Kaum vier Wochen später verhängte das Gericht eine Bewährungs- und eine Geldstrafe gegen ihn, nach seiner Rückkehr nach Gelsenkirchen sollte er dann psychologisch betreut werden.

Doch nach ein paar Treffen ging er nicht mehr zu den Sitzungen, er verstrickte sich in private Eskapaden, prahlte - ausgerechnet - vor den Kollegen mit seinem Lamborghini, kam sportlich nicht mehr voran. Der französischen Zeitung L'Équipe erzählte er im Sommer, was er bei der Arbeit auf dem Rasen erlebte: "Ich habe versucht, derselbe wie letzte Saison zu sein. Aber als ich auf dem Platz stand, sagte ich mir, dass ich keinen Erfolg haben werde. Es fühlte sich in meinem Inneren einfach nicht richtig an." Weit über das Sportliche hinaus sei diese Zeit für ihn "sehr kompliziert" gewesen, resümierte der Profi rückblickend.

Harit hätte wohl eine Menge Hilfe und Führung gebraucht, aber nach dem Fehlstart mit fünf Niederlagen hintereinander brachte der an vielen Fronten geforderte und dann während der Saison entlassene Trainer Domenico Tedesco weder die Zeit noch die Kraft und Geduld dazu auf. Auch der Verein und sein Management traten nicht mit ausgeprägter Fürsorge in Aktion. Schalke wirkte vielschichtig überfordert. Spätestens im Winter begannen auch die Mitspieler, an Harits Verhalten Anstoß zu nehmen, einzelne Profis distanzierten sich ausdrücklich. Erst im Laufe der Rückrunde, nachdem er sich mit der Familie des Unfallopfers verständigt hatte, besserte sich die Lage wieder. Ende Mai, kein Jahr nach der Tragödie von Marrakesch, wurde Harit Vater. "Es ist das größte Geschenk meines Lebens", sagte er am vorigen Wochenende, und dass er nun "gut arbeiten" müsse, "damit ich Essen nach Hause bringen kann". Dazu sollte es aber nach Lage der Dinge wohl reichen, der nächste Vertrag steht schon zur Debatte, die laufende Vereinbarung gilt bis 2021.

Mittlerweile beschäftigt Schalke außer einem Psychologen auch einen "Integrationsbeauftragten", um die Spieler bis in ihren Alltag hinein zu begleiten und zu betreuen. Die Geschichte von Amine Harit dürfte dafür eine Lehre gewesen sein.

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