Süddeutsche Zeitung

American Football:Wenn 133 Millionen Dollar zu wenig sind

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Die Baltimore Ravens und der spektakuläre Spielmacher Lamar Jackson können sich nicht auf eine Vertragsverlängerung einigen. Doch beide Seiten handeln nachvollziehbar - der Fehler liegt im System.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Manchem Betrachter dieser Zahlen dürfte der Mund offenstehen: Die Baltimore Ravens haben Lamar Jackson vor der aktuellen Spielzeit einen neuen Vertrag angeboten, der ihm 274 Millionen Dollar über sechs Spielzeiten hinweg in Aussicht stellte. Der Quarterback lehnte ab, weil nur 133 Millionen Dollar dieser Summe bei Unterschrift garantiert wären. Verrückt, mag man denken, das wirklich Verrückte jedoch ist: Beide Seiten handeln richtig, der Fehler liegt im System.

Anders als im europäischen Fußball zum Beispiel werden NFL-Gehälter nicht frei verhandelt. Die US-Footballliga ist ein Franchise-System, dessen Regeln zumindest mittelfristig allen 32 Vereinen die gleiche Chance auf Erfolg ermöglichen sollen, Auf- und Abstieg gibt es nicht. Die Grundpfeiler des Tarifvertrags sind Gehaltsobergrenzen für Franchises, die Struktur von Verträgen je nach Dienstalter sowie Restriktionen beim Verlängern von Verträgen. Dazu gehört auch, dass Verträge nicht per Monat, sondern per Spieltag bezahlt werden, das bedeutet häufig eben auch: Wer nicht auflaufen kann, auch wegen einer Verletzung, kriegt kein Geld.

Im konkreten Fall also bekommt Jackson, 25, in seinem fünften Profijahr die 23,016 Millionen Dollar, die ihm laut Vertrag zustehen - die Summe ist nicht verhandelt worden, sondern genau so im ersten Profivertrag vermerkt. Die Ravens haben für diese Saison eine Option gezogen, und nach dieser Spielzeit können sie ihn mit einem so genannten "Franchise Tag" belegen. Sie müssten ihm, damit er nicht mit anderen Vereinen verhandeln darf, das Durchschnittsgehalt der fünf bestbezahlten Quarterbacks zahlen - also geschätzte 46 Millionen Dollar nur für die Saison 2023. Das ist in etwa das jährliche Durchschnittsgehalt des Angebots inklusive aller Boni: 45,6 Millionen Dollar.

Jackson spielt im Grunde zwei Positionen gleichzeitig - das macht ihn anfällig für Verletzungen

Es gibt Varianten dieses Franchise Tags: Die Ravens könnten demnach auch nur 32 Millionen bieten - mit der Option, bei einem höheren Angebot eines anderen Vereins gleichzuziehen oder bei Weggang von Jackson mit zwei Erstrunden-Picks der Talentbörse kompensiert zu werden. Oder nur 29 Millionen, dafür hätten sie nur das Recht des Gleichziehens ohne den Anspruch auf Draft Picks.

Für die Ravens könnte sich eine Franchise-Tag-Variante heuer lohnen, weil sie Zeit gewinnen und weiterhin selbst bestimmen könnten - danach wird es teuer, das Exclusive Tag (bei dem Jackson mit keinem anderen Verein verhandeln darf) würde das Gehalt auf 55,2 (2024) und 80 Millionen in der Spielzeit danach festlegen, also deutlich mehr als bei einer langfristigen Lösung.

Das Zögern der Ravens ist Risiko-Aversion aufgrund der Spielweise von Jackson, die er an den ersten drei Spieltagen dieser Saison eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Im Grunde spielt er zwei Positionen gleichzeitig: Als Werfer schaffte er am vergangenen Wochenende beim 37:26 gegen die New England Patriots 218 Yards Raumgewinn und vier Touchdown-Pässe, er erlief aber auch 107 Yards selbst und erreichte ein Mal die gegnerische Endzone. Deshalb sind die Fans, aber auch die Verantwortlichen der Ravens bei jedem Lauf-Versuch verblüfft: aus Verzückung über das Spektakel, aber auch aus Sorge um die Gesundheit von Jackson.

Verletzungen sind keine Seltenheit bei Laufspielern. Es geht also nicht um die Gesamtsumme und damit um den Vergleich mit Russell Wilson (Denver Broncos, 242,5 Millionen Dollar, davon 161 garantiert) oder Kyler Murray (Arizona Cardinals, 230,5 Millionen, 160 Millionen garantiert), sondern einzig um den Vergleich mit Deshaun Watson, der bei den Cleveland Browns vor der Saison die Garantiesumme von 230 Millionen über fünf Spielzeiten ausgehandelt hat.

In den Vertragsverhandlungen wettet Jackson quasi darauf, dass ihm nichts passieren wird

Jackson war 2018 im Alter von 21 der jüngste Quarterback, der je bei einer Playoff-Partie von Beginn an auf dem Feld stand, ein Jahr später wurde er zum wertvollsten Spieler der Liga gewählt, in dieser Saison gilt er nach diesen spektakulären Auftritten in den ersten Partien erneut als Favorit. Er beschäftigt keinen Berater, er verhandelt gemeinsam mit Mutter Felicia für sich selbst. Er will verständlicherweise eine möglichst hohe Garantiesumme, und er wettet quasi darauf, dass ihm nichts passieren wird: "Risiko gibt es immer; ich spiele Football, da kann immer was passieren. Hoffen wir, dass nicht das Falsche passiert."

Sowohl Jackson als auch die Ravens handeln nachvollziehbar den Regeln entsprechend, und daran dürfte sich so schnell nichts ändern; der Tarifvertrag gilt bis 2030. Am Sonntag spielen die Ravens bei den Buffalo Bills, deren Spielmacher Josh Allen gilt als größter Konkurrent für die Wahl zum MVP. Den Zuschauern dürfte also häufig die Kinnlade herunterkippen bei dieser Partie - meist wegen Begeisterung, hin und wieder aber auch aus Sorge, wenn Jackson mal wieder hart zu Fall gebracht wird.

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