In dem Jahr, in dem Erich Grau an seinem Tiefpunkt angelangt war, ging er in seinem Wohnort Ansbach Brot kaufen. Er wählte Gebäck aus, und die Bäckerin packte es ein. Zum Zahlen nahm sie ihm den Geldbeutel aus der Hand und suchte sich den Betrag zusammen.
Jahre zuvor hatte Grau, 62, noch Klavier gespielt und als Gründungsmitglied der deutschen Football-Liga mit den Ansbach Grizzlies neunmal in Serie im Finale um die Meisterschaft gestanden. Neben seinem Beruf als Lehrer hat er als Sportdirektor des deutschen Footballverbands AFVD und Kommentator fürs Fernsehen gearbeitet. Jetzt schaffte er es nicht mehr, Münzen abzuzählen. Erich Grau, der erste Starting Quarterback der Nationalmannschaft, könnte der erste deutsche Footballspieler sein, der an CTE erkrankt ist, an chronischer traumatischer Enzephalopathie.
"Ein Gummibaum ist besser im Multitasken als ich", sagt Grau
In der NFL, der Football-Profiliga in den USA, ist CTE bereits seit einigen Jahren ein Thema. Die Gehirnerkrankung, die unter anderem demenzartige Symptome hervorruft, wird vermutlich durch wiederholte Kopfverletzungen wie etwa leichte Gehirnerschütterungen ausgelöst, daher sind Kontaktsportarten wie American Football oder Boxen besonders betroffen. Für eine solche Verletzung kann es bereits ausreichen, mit dem Kopf auf den Boden zu fallen - einem Footballspieler passiert das nicht selten. Die Symptome machen sich Jahre später bemerkbar. Auch Erich Grau, bei dem ein starker Verdacht auf CTE besteht, bekam die ersten Probleme, als er 45 Jahre alt war - 20 Jahre nach seiner Karriere. Kopfschmerzen, vergessene Termine, Schreibfehler an der Tafel. Danach wurde es stetig schlimmer.
Inzwischen sieht er kaum noch Farben. Seine Stimmung schwankt, auf mehr als eine Sache kann er sich nicht konzentrieren - "selbst ein Gummibaum ist besser im Multitasken als ich", sagt er. Grau erinnert sich an kaum etwas, weder Ereignisse noch Menschen. In Ansbach trainiert er eine Gruppe von Hochspringern. Aber mitten im Training erkannte er eine Springerin nicht mehr, weil sie sich eine andersfarbige Jacke übergezogen hatte. "Störungen in visueller Wahrnehmung, Stimmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis sind typisch für CTE", erklärt der Würzburger Neuropsychologe Gerhard Müller, der sich mit den Folgen von Kopfverletzungen im Sport beschäftigt.
In Deutschland, wo der Sport erst seit 1979 in Ligen gespielt wird, sind die Spielerzahlen geringer, die Strukturen unprofessioneller. Erst seit wenigen Jahren befassen sich überhaupt deutsche Mediziner und Psychologen mit Football als Ursache für CTE. Das Interesse an den Folgen leichter Gehirnerschütterungen kam durch Forschungsergebnisse US-amerikanischer Institute wie der Boston University, die eine groß angelegte Studie zu dem Thema betreibt - und durch einen Hollywood-Film. "Bis vor Jahren war das Bewusstsein überhaupt nicht da, dass leichte Gehirnerschütterungen schädlich sein können - auch jene, bei denen man keine typischen Folgen wie Verwirrung oder Übelkeit feststellen kann", sagt Ulrich Grünwald, Verbandsarzt des AFVD.
An ernste Spätfolgen dachte kaum einer. Für Tacklings wurde selbstverständlich der Kopf eingesetzt, Spieler mit Gehirnerschütterung spielten einfach weiter. "Früher war die Königsdisziplin, möglichst viele Head Hits zu schaffen und die Farbstreifen anderer Helme auf dem eigenen Helm zu sammeln", sagt Erich Grau. Inzwischen ist es verboten, den eigenen Kopf als Waffe zu benutzen oder auf den Kopf eines anderen Spielers zu zielen. Solche Vergehen werden nun bestraft, getackled werden soll hauptsächlich mit der Schulter. Abgeschaut hat sich der deutsche Football das in der NFL. Bei der Grundlagenforschung und der Prävention sind die Forscher großteils von Erkenntnissen aus den USA abhängig - dort ist das Interesse an der Krankheit viel höher.
Aber auch in den USA bleiben Fragen offen. Gibt es genetische Voraussetzungen, die die Entstehung von CTE begünstigen? Wie viele Spieler sind betroffen? In welcher Form werden die Zellen geschädigt? Und warum wirkt sich das erst Jahre später aus? Viele Erkenntnisse gibt es noch nicht über CTE. Die Forschung wird erschwert, weil eine Diagnose schwierig ist: Gesichert feststellen lässt sich die Krankheit nur, wenn man die Gehirne verstorbener Patienten untersucht. An Methoden, CTE zu Lebzeiten festzustellen, wird gebastelt. "Aber auch ohne Zahlen und die genauen Zusammenhänge zu kennen, müssen wir Prävention betreiben, allein weil der Verdacht besteht", sagt Grünwald.
Seit er vor drei Jahren angefangen hat, sich näher mit leichten Kopfverletzungen zu beschäftigen, hat er vieles in Gang gesetzt. Inzwischen werden Footballtrainer über die Gefahren aufgeklärt. Sie erhalten die sogenannt SCAT3-Karte, einen Fragebogen, mit dem ein Sportler von Nicht-Medizinern auf Anzeichen von Gehirnerschütterungen untersucht werden kann. Zudem sollen Spieler frühestens sieben Tage nach einer Kopfverletzung wieder eingesetzt werden. Außerdem empfiehlt Grünwald sogenannte Baseline-Tests. Dabei absolvieren die Spieler vor Saisonbeginn einen Leistungstest. Besteht der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung, macht der Spieler erneut einen Test. Sind die Ergebnisse zu schlecht, kann er nicht weiterspielen.
Die neuen Maßnahmen seien nicht verpflichtend, würden aber mehr und mehr umgesetzt, sagt Grünwald. Er sieht die Effekte in der Jugendnationalmannschaft, die er seit 20 Jahren medizinisch betreut. "Ich führe eine Statistik über die Anzahl der Gehirnerschütterungen. Seit wir angefangen haben, über die Gefahren aufzuklären, sind die Zahlen um 20 Prozent zurückgegangen. Ich hoffe daher, dass in Sachen CTE in Zukunft nicht viel auf uns zukommt." Er vertraut auch auf die verbesserte Ausrüstung: Inzwischen dämpfen die Helme Stöße viel effektiver als vor 30 Jahren, als die Spieler sich zum Schutz sich Knieschoner in den Helm steckten.
Grau hat sein Leben auf "20 Prozent reduziert"
Für Erich Grau kommt die neue Prävention zu spät. 2011 wurde er in den Ruhestand versetzt, nachdem ihn seine Schüler vom Lehrerzimmer abholten. "'Sie finden das Klassenzimmer doch sonst nicht, Herr Grau", haben sie gesagt. So war es auch." Der Ruhestand tut Grau gut. Er hat sein Leben "auf 20 Prozent reduziert", wie er sagt. Immer noch schreibt er Berichte über die Hochspringer, die er trainiert, wirft Diskus und Kugel, fährt Skibob, geht regelmäßig ins Krafttraining. Auch ein Flügel steht in seinem Wohnzimmer. Aber er macht nur ein bis zwei dieser Dinge am Tag - eine Strategie, die er in einer Gedächtnissprechstunde gelernt hat. Mit Football hat Grau nicht mehr viel zu tun, er fühlt sich unwohl dabei. Aber ob er es bereut, gespielt zu haben, kann er nicht sagen: "Ich lebe im Heute", meint Grau. "Damals war Football gut für mich. Und über 'was wäre wenn' denke ich nicht nach. Das bringt mir nichts."
Vor einer Weile war Erich Grau auch wieder Brot kaufen. "Sie waren schon viel schlechter beieinander", sagte die Bäckerin zu ihm.