Unser Platzwart hieß Platzkowski. Lange Zeit hielt ich das für einen Kampfnamen, so wie der Vorstopper eben Sense genannt wurde und der Mittelstürmer Flaute, jeweils aus guten Gründen. Dann aber heiratete unser Platzwart ein Mädchen aus dem Nachbarort, das er auf dem Schützenfest kennengelernt hatte, und in der Anzeige, die in der Lokalzeitung erschien, stand tatsächlich: Holger und Elke Platzkowski.
Seither hat es mich stets umso tiefer gerührt, wenn ich ihn auf seinem Rasentrecker sitzen sah, mit dem er stoisch seine Bahnen zog, auf dem Fußballplatz des TuS St. Hülfe-Heede, eines Vereins aus der zweiten Kreisklasse, den die Geschichte nicht vergessen kann, weil sie ihn nie gekannt hat, Landkreis Diepholz, Staffel Süd. Und später, als ich schon längst in die große Stadt gezogen war und nur noch selten zu Besuch kam, schenkte mir dieser Anblick ein Gefühl der Verlässlichkeit: Wie Platzkowski, unser Platzwart, bei sengender Hitze, nur beschützt von seiner Kappe, dem Werbegeschenk einer Bausparkasse, hin und her fuhr, immer wieder hin und her, und seine karge Ernte einfuhr, den Rasenschnitt. Das Knattern des Treckers zerfetzte wie eh und je die Stille des frühen Nachmittags, wenn die Opas unter dem Schatten der Markisen dösen und die Omas ihre Kreuzworträtsel lösen wollten. Was soll der Krach? Menschenskind, Platzkowski, muss das denn sein?
Wenn der Trecker mal bockte, bekam er einen Schlag mit dem Schraubenschlüssel
Und ob das sein musste. Er konnte doch gar nicht anders, mit diesem Namen, dachte ich. Er war eine Symbolfigur für die berückende Übersichtlichkeit des Dorfes, wo die Namen der Leute sich bis vor nicht allzu langer Zeit noch aus ihren Berufen ableiteten, wo der Schmied Schmidt hieß und der Müller Müller. Und Platzkowski, unser Platzwart, war, nachdem der Strukturwandel im ländlichen Raum längst begonnen hatte, es keine Schmieden mehr gab und auch keine Mühlen, der letzte seiner Art. Ein Mann, der noch so hieß wie das, was er tat. Ein Mann mit sprechendem Namen.
Platzkowski hat nie Sperenzchen gemacht. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, etwa komplizierte Muster in den Rasen zu zeichnen, wie es nach der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko Mode wurde, oder auch nur mal quer zu mähen, um durch die so entstehenden Streifen dem Linienrichter die Abseitsentscheidung zu erleichtern. Wozu auch, denn in der zweiten Kreisklasse gab es keine Linienrichter. Man konnte schon froh sein, wenn zufällig einer da war, der nicht zu viel Haake-Beck gesoffen hatte, um noch eine Pfeife zu betätigen. Platzkowski fuhr mit seinem Trecker immer nur von Torauslinie zu Torauslinie, wie ein Ackerbauer auf seinem metallischen Ochsen, und wenn der mal bockte, bekam er einen Schlag mit dem Schraubenschlüssel, dann parierte er wieder.
Es muss unsagbar langweilig gewesen sein auf dieser immer gleichen Bahn, doch jede Absurdität braucht bekanntlich einen Helden, der sie erträgt. Platzkowski war der Sisyphos des TuS, und wenn man ihn fragte, na, Platzkowski, wie geht's, setzte er seine gebeizte Bausparkassenkappe ab, wischte sich mit einem antiken Taschentuch ostentativ den Schweiß von der Stirn und sprach: Beschissen wär' geprahlt.
Dass unser Platzwart nun Platzkowski hieß, ließ mich annehmen, so lange auf diesem Fußballplatz Rasen gemäht werden müsste, würde das immer seine hoheitliche Aufgabe bleiben. Und wenn ich es mal nötig hätte, nach Monaten in der rasenden Großstadt, mich an einem Nullmeridian neu auszurichten, müsste ich nur die senkrechten Bahnen betrachten, die er gezogen hatte. Vielleicht, dachte ich, hat ihm der Vorstand mal einen neuen Trecker spendiert, vielleicht auch eine neue Kappe. Doch sonst wäre hoffentlich alles beim Alten geblieben.
Fußball:Eine Wissenschaft namens Greenkeeping
Platzwarte? Gab es einmal. Bundesligaklubs halten sich heute ganze Greenkeeping-Abteilungen - weil der Rasen über Erfolg und Misserfolg entscheiden kann.
Dann sah ich, als ich neulich, an einem milden Herbsttag, mit dem Rad am Vereinsgelände des TuS St. Hülfe-Heede vorüberfuhr, zwei Mähroboter auf dem Rasen äsen. Elektronischen Schafen gleich, verrichteten sie ihre Arbeit lautlos und penibel, der Platz ähnelte einer Golfanlage. Und mir war, als wäre hier etwas in entsetzliche Unordnung geraten. Wo war Platzkowski, unser Platzwart? Wo waren die senkrechten Bahnen, an denen ich mich neu hätte ausrichten können? Mir wurde schwindelig.
Nun habe ich, was den Fußball anbelangt, bereits allzu viel enttäuschende Veränderung hinnehmen müssen. Ich habe erlebt, wie meine Hoffnung verblasst ist, dereinst doch noch vom zufällig vorbeikommenden Otto Rehhagel aus dem Stegreif zum SV Werder geholt zu werden. Wie sogar der Trainer der ersten Herrenmannschaft des TuS St. Hülfe-Heede mir beschied, es reiche nur für die zweite. Wie ich nicht, so hatte ich es mir einmal ausgerechnet, 2002 oder spätestens 2006 als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft den WM-Pokal in den Himmel stemmte. Wie Miroslav Klose, der im selben Jahr geboren ist wie ich, seine Karriere beendet hat und jetzt als Experte fungiert, an Studiotresen herumsitzt, und Anzüge von Casino-Croupiers aufträgt. Wie er die Darbietungen seiner Nachfolger analysiert, deren Namen ich mir nicht mehr merken kann und will, weil sie mir allesamt vorkommen wie Harlekine der Vergänglichkeit. Wie die Fußballer immer jünger werden oder ich immer älter oder beides und mich das ungute Gefühl beschleicht, dass ich, wenn das in diesem Tempo so weitergeht, wahrscheinlich eines Tages sterben werde. Und zwar nicht als Legende.
All dies war doch schon Kränkung genug. Und jetzt hatten sie dort, wo die Zeit niemals zu vergehen und alles immer beim Alten zu bleiben schien, im Museum meiner Kindheit, Platzkowski, unseren Platzwart, durch zwei japanische Mähroboter ersetzt. Ich nahm das persönlich, als hätten sie gegen meinen Willen meine Erinnerung modernisiert. Es wäre kaum schwerer zu ertragen gewesen, hätte ich die Zeitung aufgeschlagen und in der Tabelle der zweiten Kreisklasse, Staffel Süd, plötzlich ein RB St. Hülfe-Heede als neuen Vereinsnamen gelesen.
Der professionelle Fußball mag ja eine Seifenoper sein, in dem das Ensemble wechselt, wie es den Produzenten gerade in den Kram passt. Das nehme ich hin, wie es ein Sky-Abonnent hinzunehmen hat. Aber wenn in die Rollenverteilung meines Heimatvereins eingegriffen wird, kommt es mir vor, als wäre ein Klassiker umgeschrieben worden. Platzkowskis Verschwinden bedurfte also einer Erklärung.
Am darauffolgenden Tag, einem Sonnabend, fuhr ich wieder zum Fußballplatz, es stand ein Spiel der U16 an, die früher mal B-Jugend hieß, noch so eine lästige Veränderung. Ich sah ein paar bekannte Gesichter wieder, auch Flaute war vor Ort, der ehemalige Mittelstürmer. Niemand gedachte allerdings, mich noch einmal dafür hochleben zu lassen, dass ich in der Saison 1991/92 beim Stand von 1:0 gegen den Lokalrivalen TSV Aschen den Ball in der letzten Spielminute von der Seitenlinie auf das Dach der angrenzenden Schule gedroschen und so den Sieg gerettet hatte. Was machst du denn hier, war noch das Enthusiastischste, was ich zu hören bekam. Was soll's, dachte ich, Ruhm ist vergänglich. Ich war ja ohnehin nur hier, um diese eine Frage zu klären: Wo ist unser Platzwart? Wo zur Hölle ist Platzkowski?
Dass ich diesen Namen erwähnte, sorgte für allgemeine Erheiterung. Und auch, wie ich feststellen musste, für etwas Mitleid mit einem wie mir, der ganz offenbar den Wandel der Zeit verschlafen hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich an der Kasse eines Blockbusterkinos gefragt, wann denn endlich mal wieder ein Film von Dick und Doof gezeigt werde.
Platzkowski? Hahaha. Och, der sei, erklärte man mir nun in der Diktion einer Pressekonferenz, schon seit geraumer Zeit von seinen Aufgaben entbunden worden. Die Rasenqualität habe zu wünschen übrig gelassen, ein Acker sei das gewesen, mein lieber Herr Gesangsverein. Diese neuartigen Mähroboter seien da wesentlich akkurater, zudem wartungsarm und kostengünstig. Man habe nun auch Solarzellen auf dem Dach des Vereinsheims installieren lassen und betreibe sie mit dem so gewonnenen Strom.
Gerade als jemand sagte, damit schreibe man eine schwarze Null, das mag ein Zufall gewesen sein oder auch nicht, schoss einer von der U16, ein seltsam professionell wirkender Junge mit Bundesligafrisur, das 1:0, lief zu einer Gruppe hysterisch quiekender Mädchen, die sich auf Höhe des Strafraums versammelt hatte, und ließ sich beim Jubel fotografieren.
Als ich nach dem Spiel nach Hause fuhr, dachte ich darüber nach, ob ich Platzkowski anrufen sollte, um ihn nach seiner Sicht der Dinge zu fragen. Ich verwarf den Plan jedoch. Zu groß war die Angst, dass er entgegnen würde: Kein Kommentar.
Was man halt so sagt im modernen Fußball.