Alpine Ski-WM:Summa cum laude

Alpine Ski-WM: Außen locker, innen abgebrüht: Kira Weidle (hier bei der Abfahrt) ist laut Trainer zur Top-Fahrerin gereift.

Außen locker, innen abgebrüht: Kira Weidle (hier bei der Abfahrt) ist laut Trainer zur Top-Fahrerin gereift.

(Foto: Gabriele Facciotti/AP)

Kira Weidle wusste schon früh, was sie wollte: nach ganz oben in ihrem rasanten Sport. Die Silbermedaille bei der WM-Abfahrt, die erste für den Deutschen Skiverband seit 1996, ist der vorläufige Höhepunkt in der Karriere der 24-Jährigen.

Von Johannes Knuth, Cortina d'Ampezzo

Kira Weidle hatte sich längst um alles gekümmert. Eigentlich hatte sie nach der Abfahrt am Samstag aus Cortina d'Ampezzo abreisen wollen, aber nun, hatte die 24-Jährige nach ihrer Silberfahrt verfügt, "verlängern wir mit dem gesamten Team um eine Nacht". Weidle, aufgeräumt wie immer, hatte sich sogar schon eine Räumlichkeit für die Festivitäten ausgeguckt, im Hotel gebe es einen Ski-Raum, "da stören wir keinen", sagte sie. Am Donnerstag nachdem Romed Baumann im Super-G dieser Weltmeisterschaften überraschend Zweiter geworden war, hatten sie im Teamhotel spontan einen Sektempfang orchestriert, nach Weidles Erfolg wurde dem Vernehmen nach dann nicht nur im Ski-Raum ordnungsgemäß gefeiert. Aber die Nachschubrouten, versicherte Wolfgang Maier, der Alpindirektor im Deutschen Skiverband (DSV), seien weiter gesichert, ein Betreuer aus dem medizinischen Stab sei im Nebenberuf "Prosecco-Dealer".

Wohl dem, der derart qualifiziertes Personal hat, quer durch alle Ressorts.

Außen locker, innen abgebrüht und ansonsten: Weidle weiß genau, was sie will

Wenn man am Wochenende die Archive durchkämmte, stellte man erst fest, was Weidle am Samstag fertig gebracht hatte in einer Disziplin, die gemeinhin als Königsdisziplin des Alpinsports firmiert. Die bis dato letzte WM-Medaille einer deutschen Abfahrerin hatte Maria Höfl-Riesch vor acht Jahren beschafft, als Dritte; die letzte Silbermedaille stammte von Katja Seizinger (1996); die letzte deutsche Abfahrtsweltmeisterin ist nach wie vor Rosi Mittermaier (1976). Das ist die Festgemeinde, in die Kira Weidle vom Ski-Club Starnberg nun aufgerückt ist, seit Jahren eine der wenigen Hoffnungen der deutschen Frauen, seit dem Rückzug von Viktoria Rebensburg umso mehr. "Da haben ja viele gelacht vorher", sagte Maier nun, der vor dieser WM eine Bewerbung für eine Medaille bei den Männern und den Frauen eingereicht hatte. "Aber manchmal", sagte der 60-Jährige, "läuft es auch in unserer Richtung."

FIS World Ski Championships - Women's Downhill

Kurzer Jubel ohne Maske: Kira Weidle, 24, mit ihrer WM-Silbermedaille.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Weidle ist keine Lindsey Vonn, die den alpinen Zirkus immer auch als ihre eigene Reality-Show inszenierte, sie ist keine Sofia Goggia, die jedes Rennen so fährt, als würde sie jauchzend auf einem Surfbrett über das Lavafeld eines brodelnden Vulkans preschen. Weidle hatte etwas Glück, dass die Eltern einst nicht in Stuttgart oder Nordrhein-Westfalen heimisch wurden, sondern in Starnberg. Dort, hat ihr langjähriger Trainer Matthias Pohlus einmal erzählt, legte sie als Grundschülerin den Berufswunsch "Skirennfahrerin" vor. Als Neunjährige rauschte sie den Auslaufhügel einer Skisprungschanze kerzengerade herunter, mit 19 debütierte sie im Weltcup, dort wurde sie in der Abfahrt bis zum WM-Wochenende zwei Mal Dritte. Nach ihrer ersten Visite unter den besten Zehn vor vier Jahren war sie kurz etwas arg vom Hochmut beseelt, berichtete Jürgen Graller damals, ihr Cheftrainer im DSV, aber es war ein kurzer Anflug, und mittlerweile, findet Graller, sei sie "noch mal als Person gereift": nach außen hin locker, intern "abgebrüht", genau wissend, was sie will und kann und was nicht. Da habe sie viel von Rebensburg gelernt.

Ihr Erfolg weist auch auf eine Schwachstelle in der Ausbildung hin

Diese Kernkompetenzen brachte Weidle zuletzt so gewissenhaft ein wie eine Examensabsolventin, mit Prädikat Summa cum Laude. Sie ließ sich nicht durch den Vorwinter irritieren, als ihr eine Influenza zu schaffen gemacht hatte; nicht von Rebensburgs Rücktritt, an der sie sich im Training oft gemessen hatte; nicht durch die Verletzungen ihrer Teamgefährtinnen Michaela Wenig, Meike Pfister und Patrizia Dorsch, was dazu führte, dass Weidle auch in Cortina die einzige DSV-Starterin in Super-G und Abfahrt war. Sie steckte auch eine Daumenfraktur zu Saisonbeginn weg; sie wusste, dass ihre fünften und zehnten Plätze zuletzt mit etwas Glück schon dritte und zweite hätten sein können, aber das große Ziel, proklamierte sie intern, sei ohnehin die WM. Früher hatte sich Weidle mit derartigen Ambitionen auch mal übernommen, diesmal, sagte sie, habe sie sich "so ein bisschen Gleichgültigkeit" eingeflößt, denn: "Ich bin noch 24, ich weiß, dass noch ein paar Großereignisse kommen." Und so goss sie all ihr Können schon jetzt in eine funkelnde Fahrt, zwischen den Dolomitenzacken am Tofana-Schuss hindurch, durch langgeschwungene und schärfere Kurven, die Weidle mittlerweile auch passabel beherrscht. Nur die Schweizerin Corinne Suter war um zwei Zehntelsekunden flotter, die begabteste Speed-Fahrerin der vergangenen Winter.

So sehr sie am Wochenende im DSV vor Erleichterung vibrierten, sie wussten schon auch, dass Weidles Erfolg auch auf eine Schwachstelle wies. Man zahle aufgrund einer "eklatanten Serie an Verletzungen" gerade einen hohen Preis, nicht nur bei den Erwachsenen, sagte Wolfgang Maier auf Nachfrage. Und was die Nachführarbeit betreffe: Früher hatten sie im DSV, überspitzt gesagt, viel Wert auf die technische Ausbildung gelegt, den Riesenslalom-Schwung etwa, die Basis für Kurvenfahrten in allen Disziplinen, und wer es bei den Technikern nicht schaffte, wechselte irgendwann halt auf die Abfahrt. Vor zwei Jahren haben sie im Verband ein neues Konzept aufgespielt, damals war der junge Abfahrer Max Burkhart, der jenseits der DSV-Kader trainiert hatte, tödlich verunglückt. Seitdem schicken sie nur noch Speed-Fahrer ins Rennen, die ihr neues Programm durchlaufen, mit Speed-Camps für Unter-16-Jährige und einem medizinischen Angebot, das in Athletenkörpern Schwachstellen aufspüren soll, bevor diese in Verletzungen münden. Aber bis das alles seine Wirkung entfalte, sagt Maier, werde es wohl Jahre dauern. Und zur Wahrheit gehört auch, dass das beste System nur das fördern kann, was von der Basis nachkommt, und dort dünnen die Startfelder immer mehr aus, weil die Wege in den Schnee weiter und teurer werden.

Weidle ist von schweren Verletzungen bislang verschont geblieben, sie steht auch emblematisch für eine der wenigen Hochbegabungen, die im DSV über die Jahre immer mal wieder nachkommen und die sie gewissenhaft pflegen müssen. Die Ehrgeizigen, die genau wissen, was sie wollen, von der Grundschule an bis zur Siegesfeier im Ski-Raum.

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