Post-Covid bei Leistungssportlern:Erschöpft in der Zwischenwelt

Post-Covid bei Leistungssportlern: Erinnerungen an bessere Tage: Alina Kenzel bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019 in Doha - ihrem bis heute letzten großen internationalen Auftritt.

Erinnerungen an bessere Tage: Alina Kenzel bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019 in Doha - ihrem bis heute letzten großen internationalen Auftritt.

(Foto: Laci Perenyi/Imago)

Viele Hochleistungssportler legen gerade das Fundament für die kommende Sommersaison. Andere wissen nicht, ob sie es noch einmal in den Sport zurückschaffen - wie die Kugelstoßerin Alina Kenzel, die nach wie vor die Folgen einer Corona-Infektion spürt.

Von Ewald Walker, Stuttgart

Jubelnd, mit ausgestreckten Armen, verlässt Alina Kenzel den Ring. Gerade ist sie ist zum dritten Mal deutsche Meisterin im Kugelstoßen geworden, zweieinhalb Jahre ist das her. Damals sind die nationalen Titelkämpfe der Leichtathleten in Braunschweig einer von wenigen Wettkämpfen, die während der Pandemie stattfinden, ein Hoffnungsschimmer für die Athleten - und für die neue Kugelstoßmeisterin persönlich.

Kenzel war schon damals Welt- und Europameisterin im Nachwuchs. Olympia in Tokio, die Weltmeisterschaften in Eugene, die Heim-EM in München, das waren die nächsten großen Ziele. Doch etwas mehr als ein Jahr später stürzte die 25-Jährige vom VfL Waiblingen in ein tiefes Tal.

"Ich war nicht in der Lage, Treppen zu steigen", erinnert sich Kenzel

Zwei Corona-Infektionen hinterließen schwere Folgen, für den Körper kam dies einer Notbremsung gleich: Atemnot, Erschöpfung, Schwindel, Taubheit in einer Gesichtshälfte. "Ich konnte kaum mehr einen Spaziergang machen, war nicht in der Lage, Treppen zu steigen", erinnert sich Kenzel heute.

Die Pandemie und ihre Folgen wirken in diesen Tagen manchmal wie ein ferner Fiebertraum; auch die Leichtathleten stecken längst wieder in ihrer routinierten Betriebsamkeit. Sie bereiten sich gerade in Trainingslagern auf die Saison vor, jede Stunde steht im Dienst eines größeren Ziels, vor allem für die Weltmeisterschaften im August in Budapest. Und Kenzel? Hängt in einer Zwischenwelt fest. Sie trainiert schon wieder, aber sie kann nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob es was wird mit Budapest oder dem Leistungssport überhaupt - wie bei einigen Spitzenathleten, die bis heute mit den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion kämpfen, manche auch mit denen einer Impfung.

Zu Beginn ihrer Leidenszeit hatte Kenzel die Vierer-Kugel, die wie das Essen zu ihrem Alltag gehört hatte, in die Ecke gelegt. Früher absolvierte sie 4000 bis 5000 Stöße im Ring, jetzt schien in ihrem Trainingstagebuch lediglich ein Strich auf. Verzweiflung und Trauer wechselten sich ab, manchmal brach auch beides über sie herein.

Alina Kenzel ging zu Medizinern nach Tübingen, nach Warendorf und nach Köln. Keiner kannte sich aus mit dieser neuen Krankheit. Dann landete sie im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm, bei Daniel Gagiannis, 43. Der Oberarzt der Lungenheilkunde hatte eine bis dato einzigartige Sprechstunde für Spitzensportler eingerichtet, die an Post-Covid litten. Halten die Beschwerden einer Corona-Infektion bis zu zwölf Wochen danach an, spricht man von Long Covid, danach von Post-Covid, sagt Gagiannis: Wenn also Atemnot, erhöhte Herzfrequenz, manchmal auch die Dauermüdigkeit nicht verschwinden wollen.

Mit der Diagnose PACS (Post Accused Corona Syndrom), einer Erkrankung der Atemwege, machten sich Arzt und Patientin auf eine lange Reise. "Es galt zunächst, Vertrauen aufzubauen", sagt Gagiannis. Kenzel ließ ihre Atemgase auf einem Fahrradergometer messen, um die Leistungsfähigkeit der Lunge zu prüfen, Blut- und Gewebeentnahmen brachten weitere Erkenntnisse. Die Diagnose: Kenzel litt nach der Infektion an verengten Lungenbläschen - und dadurch an erheblichen Atemproblemen.

Es folgte die Behandlung mit Antibiotika und Kortison. Entscheidend, sagt Gagiannis, sei eine sogenannte thermoplastische Behandlung gewesen. Dabei wurde in Kenzels Lungen mittels eines neuartigen Gefäßkatheters Wärme eingeführt, um die Lungenbläschen wieder zu weiten. Kenzel unterzog sich auch einer Therapie, bei der Druckpunkte am Nacken massiert werden. So sollten sich Verspannungen rund um den Atlaswirbel lösen, die sich durch die Fehlatmung gebildet hatten.

Sportler könnten empfänglicher für Langzeitfolgen sein - auch für die nach einer Impfung

Daniel Gagiannis betreut aktuell zwölf Spitzensportler mit der Diagnose PACS. "Wir vermuten eine hohe Dunkelziffer", sagt der Mediziner. "Aus Angst vor dem Karriereabbruch und der Kündigung von Verträgen wollen sich Athleten aber nicht outen." Ähnlich dürfte es dem - wenn auch offenbar kleineren - Teil an Spitzenathleten ergehen, die an ähnlichen Folgen leiden, die nach einer Corona-Impfung auftraten. Jürgen Steinacker, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie, hat mehrere dieser Athleten am Uniklinikum Ulm betreut, unter anderem Langstreckenläuferin Alina Reh. Steinacker berichtete zuletzt in mehreren Medien, dass vor allem Athleten, die sich gewichtsorientiert ernährten oder einen hohen Energieumsatz hätten, anfälliger für diese Krankheitsbilder sein könnten. Das liege offenbar daran, dass sie intensive Trainingsreize besonders gut verarbeiten. Und diese Veranlagung könnte wiederum, grob gesagt, auch eine intensive Reaktion auf die Impfung fördern, ähnlich wie bei schweren Folgen nach einer natürlichen Infektion.

Kenzel ist - trotz aller Offenheit - als Mitglied der Sportfördergruppe bei der Bundeswehr nach wie vor abgesichert. Der Deutsche Leichtathletik-Verband habe ihr ebenfalls mitgeteilt, sagt sie, dass er sie im Perspektivkader halten werde. Auch ihr Arzt hat ihr Mut gemacht: "Alina Kenzel wird zu alter Stärke finden", wagt Gagiannis eine Prognose, "vielleicht wird sie mit dem Erlebten noch stärker."

Oktober 2022: Alina Kenzel kann wieder tiefer und intensiver atmen, das Asthma hat sich aber noch nicht aufgelöst. Am 9. Januar dann, auf den Tag genau ein Jahr, nachdem sie die Halle am Olympiastützpunkt in Stuttgart zum vorerst letzten Mal betreten hatte, kehrt sie zurück. Erstmals nimmt sie wieder eine Kugel in die Hand, sie begegnet ihr befremdlich. Dann lächelt Kenzel.

"Alles ist Neuland für uns", sagt Kenzels Trainer

In der Folge steht vor allem Rehatraining im Plan, auf dem Laufband und auf dem Fahrrad. Ab und zu geht es auch schon wieder in den Ring, dann treten Kenzel und Nico Kappel, der Paralympics-Sieger in ihrer Trainingsgruppe, zum Standstoß-Wettstreit an. "Man spürt, dass in Alina wieder ein Feuer entfacht wird", sagt ihr Trainer Peter Salzer. Der 64-Jährige wurde 2017 zum Trainer des Jahres in Baden-Württemberg gewählt, er ist ein Experte für Kugelstoßen, nicht aber für Athleten, die an einer Krankheit leiden, deren Folgen niemand abschätzen kann. "Alles ist Neuland für uns", sagt Salzer, und: "Wir werden keinerlei Druck bei der Rückkehr an die Vierer-Kugel aufbauen." Ende März haben sie erstmals wieder einen Trainingsplan ausgearbeitet.

Alina Kenzel wird erst wieder Wettkämpfe bestreiten, wenn sie 18 Meter stoßen kann, sagt ihr Trainer. 18,69 Meter ist ihre Bestleistung, gestoßen im Juli 2021. Bei der EM in München wäre sie damit Vierte geworden, bei Olympia in Tokio Zehnte. Olympia sei nach wie vor ihr großes Ziel, sagt sie, dann eben Paris statt Tokio. Die sportlichen Träume haben ihre Post-Covid-Zeit auf alle Fälle überlebt.

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