Champions League:Ajax ist die Universität des Fußballs

Ajax Amsterdam - Spieler bejubeln ein Tor gegen Feyenoord

David Neres und Ajax sind gerade Pokalsieger in Holland geworden.

(Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)
  • Ajax ist der Klub mit der bemerkenswertesten Geschichte dieses Fußballfrühlings.
  • Gegen Tottenham reicht ein Unentschieden, um ins Finale der Champions League zu kommen.
  • Die Kultur des Vereins ist geprägt von seiner langen Historie.

Von Benedikt Warmbrunn

Justin Kluivert hat noch alle Chancen auf eine große Fußballkarriere, er ist noch jung, 20 Jahre alt, bestimmt glaubt er auch selbst daran. Obwohl ja gerade die ganz große Geschichte ohne ihn geschrieben wird. Es ist eine Geschichte, zu der er, der Sohn des wirklich großen Fußballstürmers Patrick Kluivert, eine familiäre Note hätte beitragen können, es wäre dann endgültig eine Geschichte, wie sie die Romantiker im Fußball lieben, eine Geschichte, in der es um den Kampf der Kleinen gegen die Großen geht, und auch um die Liebe zum Spiel. An diese Geschichte wollte Justin Kluivert aber nicht glauben.

Im Frühjahr 2018 wurde Kluivert von seinen damaligen Bossen auf die Geschäftsstelle gebeten. Sechs Mitspieler und er hatten Angebote von den größten Klubs der Welt, die Klub-Bosse unternahmen nun einen weiteren, vielleicht letzten Versuch, die sieben vom Bleiben zu überzeugen. Sie probierten es: mit Romantik. Sie spielten den Talenten ein Video vor, in dem jeder von ihnen mit einem berühmten Spieler aus der Geschichte des Klubs verglichen wird.

Kluivert kannte diese Geschichte von Ajax Amsterdam bereits gut, sein Vater hatte 1995 als 18-Jähriger für den Klub das Tor zum Titel in der Champions League erzielt. Justin Kluivert wusste also auch, wie schwer es für die Kleinen gegen die Großen ist, er wusste, wie gering die Chancen für Romantiker im modernen, durchkommerzialisierten Fußball sind. Also wechselte er nach Rom, scheiterte im Achtelfinale, kämpft in der Liga um einen internationalen Platz, erzielte in 27 Ligaspielen bisher ein Tor; Trainer Claudio Ranieri spottete, ob die Roma versehentlich seinen jüngeren Bruder verpflichtet habe.

Die anderen sechs von der Geschäftsstelle dagegen, André Onana, Kasper Dolberg, David Neres, Matthijs de Ligt, Donny van de Beek und Frenkie de Jong, spielen an diesem Mittwoch (21 Uhr) in der Johan-Cruyff-Arena um den Einzug ins Finale der Champions League, die Chancen stehen nicht schlecht, das Hinspiel bei Tottenham Hotspur hat Ajax 1:0 gewonnen. Doch egal, wie es ausgeht: Alle sechs sind bereits ein bisschen unvergessbar geworden.

Die Geschichte mit der Videositzung auf der Geschäftsstelle hat in der vergangenen Woche Edwin van der Sar, der Vorstandsboss von Ajax, in einer Telefonkonferenz erzählt. Es war sein Beispiel dafür, warum Ajax mit kleinem Budget, aber innovativem Ansatz in dieser Saison den europäischen Fußball aufmischt. "Wir hatten den Spielern gesagt: Wenn ihr Ajax-Legenden werden wollt, müsst ihr etwas Großes gewinnen." Van der Sar und Sportdirektor Marc Overmars sagten außerdem zwei Sätze, die es im modernen Fußball eigentlich schwer haben. Sie sagten: "Wartet auf uns. Glaubt an uns."

"Zwei, drei, vier Jahre gute Dienste für den Klub, dann könnt ihr weiterziehen."

Und sechs von sieben glaubten. Sie entschieden sich gegen eine der größeren Ligen, sie entschieden sich gegen ein höheres Gehalt. Sie entschieden sich für einen Verein, dessen internationale Saison in der zweiten Qualifikationsrunde der Champions League begann, gegen Sturm Graz. Bleiben werden ihnen schon jetzt zwei Unentschieden gegen den FC Bayern, ein 4:1 im Achtelfinale bei Real Madrid, ein 2:1 im Viertelfinale bei Juventus Turin. Und sie haben dabei Fußballeuropa so begeistert wie lange keine Mannschaft mehr, mit einem technisch anspruchsvollen und doch traumwandlerisch sicheren Fußball.

Begonnen hatte dieser Erfolgslauf wie so viele Geschichten von Ajax Amsterdam mit Johan Cruyff, dem großen Spieler der 1970er Jahre, dem späteren Trainer, dem Vordenker und Guru dieses stilprägenden Offensivfußballs.

Zu Beginn des Jahrzehnts, van der Sar stand noch im Tor von Manchester United, rief ihn Cruyff an und bot ihm einen Job im Vorstand von Ajax an. Cruyff, damals Berater des Vereins, habe ihm gesagt, dass er keinen Anwalt oder Wirtschaftsboss an der Spitze von Ajax sehe, sondern einen, der Fußball kennt und versteht. "Er hat mir gesagt, dass er einen braucht, der die Universität des Fußballs absolviert hat und damit auch die Universität des Lebens", erzählt van der Sar. "Er wollte einen, der weiß, was Rückschläge bedeuten und was Erfolg; einen, der weiß, was Fehler bedeuten und was Paraden; einen, der weiß, was es heißt, ein Finale zu gewinnen und was, ein Finale zu verlieren." Im Herbst 2012 fing van der Sar als Marketingdirektor an.

Die Mannschaft, die er damals vorfand, hatte wenig zu tun mit der historisch gewachsenen Idee einer jungen, inspirierenden Ajax-Mannschaft. Van der Sar berichtet von vielen älteren Spielern mit hoch dotierten Verträgen. Die Klubführung begann, wieder mehr Geld in die Ausbildung der Spieler zu stecken, sie eröffneten Akademien in China, in Südafrika, in den USA.

Das Team verstärkten gezielt ausgewählte Zugänge, darunter 2014 Torwart Onana, 2015 der Stratege de Jong und 2016 der Außenbahnsprinter Neres. Von keinem von ihnen hat van der Sar erwartet, dass sie bis zum Karriereende bleiben werden. Aber er hat allen versprochen, dass Ajax der richtige Verein für ihre Entwicklung sei, dass sie hier eine Idee vom Fußball lernen können, die sie attraktiv machen wird für die großen Vereine und die großen Gehälter.

Ten Haag wird skeptisch betrachtet

Er habe immer wieder gesagt: "Zwei, drei, vier Jahre gute Dienste für den Klub, dann könnt ihr weiterziehen." 2017 erreichte Ajax mit einem Team, dessen Kern dem der heutigen Mannschaft ähnelt, schon das Finale in der Europa League, verlor dort gegen Manchester United.

Wenige Monate später verpflichteten Overmars und van der Sar als neuen Trainer Erik ten Hag, den viele im Umfeld des Vereins - bis heute - skeptisch betrachten, weil er nie für Ajax gespielt hat. Die Bosse aber wollten unbedingt ihn, weil ten Hag auf seinen Stationen zuvor, unter anderem beim FC Bayern II, bewiesen hatte, dass er es versteht, Talente zu fördern. Bald forderten van der Sar und Overmars von ten Hag mehr Risiko in der Offensive, mehr Flügelspiel, weniger Pässe in die Breite, sie forderten: mehr Ajax-Fußball.

"Das war eine klare Botschaft von uns", sagt van der Sar. Und ten Hag glaubte an diese Botschaft. Seine Mannschaft begeistert in diesem Frühjahr auch, weil sie an die Ajax-Mannschaften aus den 1970ern und den 1990ern erinnert. Beim 4:1 in Madrid, sagt der Vorstandsboss, habe das Team "ein Level erreicht, das niemand auf dieser Welt von uns erwartet hatte".

In diesem Sommer werden nun mehrere Spieler weiterziehen, de Jong geht nach Barcelona, Kapitän de Ligt wohl auch. Auch Neres und den anderen Außenbahnspieler, Hakim Ziyech, umwerben mehrere Spitzenvereine, ebenso wie van de Beek, den Torschützen im Hinspiel gegen Tottenham. "Meine Idee ist es nicht, sieben Spieler zu verkaufen", sagt van der Sar. "Wir werden mit der Welle nicht untergehen." Es gebe zwar keinen zweiten de Jong, aber die Idee vom Spiel, die soll bleiben. Und überhaupt, sagt van der Sar, der Klub sei angewiesen auf die Verkäufe, "wir müssen ja Platz schaffen für die Talente, die noch in der Akademie sind".

Doch werden die, die weiterziehen, als Legenden gehen, als Spieler, die der nächsten Generation einmal in Videos angepriesen werden? "Ich denke, wir können diese Mannschaft mit der von 1995 vergleichen", sagt Edwin van der Sar, mit der Mannschaft also, die zuletzt für Ajax die Champions League gewonnen hat. Das Tor des Tages erzielte der Vater von Justin Kluivert, und im Tor stand ein 197 Zentimeter großer, 24 Jahre alter Torwart namens Edwin van der Sar.

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