Süddeutsche Zeitung

Ajax Amsterdam:Auf der Durchreise

"Fußball, der von Herzen kommt": Beim Sieg in Tottenham spielt Ajax den Gegner erst an die Wand und besteht dann auch die Reifeprüfung, humorlos verteidigen zu können.

Von Sven Haist, London

So ganz traute Erik ten Hag dem Frieden wohl nicht. Kurz vor dem Stadionausgang drehte sich der Trainer von Ajax Amsterdam zur Sicherheit noch mal um und schaute suchend hinüber zu seiner Mannschaft, die sich am anderen Ende des Platzes bei den mitgereisten holländischen Fans versammelte. Wie eine Aufsichtsperson schien ten Hag sich zu vergewissern, dass all seine Spieler noch anwesend waren und unversehrt das fußballerische Unwetter überstanden hatten, das über sie hereingebrochen war. Schließlich beinhaltet seine Tätigkeit bei Ajax eine besondere Fürsorgepflicht, wenn seine auf internationales Topniveau heranwachsenden Profis im Champions-League-Halbfinale auf das keine Traurigkeit kennende Tottenham Hotspur treffen.

Nach diesem Kontrollblick realisierte ten Hag, dass seine Spieler putzmunter das Duell mit den Spurs weggesteckt hatten - und dass er sie nun guten Gewissens allein lassen konnte nach dem 1:0-Sieg.

Im Hinspiel bei Tottenham sah sich Ajax eine Stunde lang einer Vielzahl an hoch nach vorne geschlagenen Pässen ausgesetzt, die vor dem eigenen Tor auf die Köpfe der Abwehrspieler niederprasselten. Mit dieser Strategie versuchte der Tabellendritte der Premier League den Himmelsstürmern aus Holland ein Spiel aufzuzwingen, das jene in ihren jungen Karrieren so bislang kaum kennengelernt hatten bei ihrer auf Ballkunst ausgelegten Ausbildung in Amsterdam. Offenkundig konnten die Gästespieler mit dem wie Weltraummüll unkontrolliert umherfliegenden Ball plötzlich nichts mehr anfangen; dabei war er zu Beginn noch ihr Spielzeug gewesen. Immer wieder beförderte Ajax den Fremdkörper deshalb humorlos dorthin zurück, wo er hergekommen war. Die Amsterdamer wussten ja, dass sie in der Anfangsphase des Spiels ihre eigene Art des Fußballs bereits erfolgreich umgesetzt hatten - gekrönt durch das fabelhafte Tor (15.) von Spielmacher Donny van de Beek, 22.

Und sie wollten keinesfalls einen alten Fehler wiederholen. Denn noch 2017 ging Ajax bei der Finalniederlage in der Europa League dem von José Mourinho zynisch gecoachten Manchester United auf den Leim. Hinter vorgehaltener Hand beklagten sich die Spieler und der damalige Trainer Peter Bosz (inzwischen Leverkusen) seinerzeit bitterlich über die destruktive Ausrichtung des Gegners. In Amsterdam ist diese Spielweise, den Ball auf gut Glück nach vorne zu hauen, traditionell verpönt.

Doch das damalige Vordringen ins Endspiel - inklusive der erlebten Gemeinheit - hat sich im Rückblick als Geburtsstunde des aktuellen Teams erwiesen. Acht jener neun Ajax-Profis aus dem Finalaufgebot im Mai 2017, die bis heute zum Kader gehören - Torwart André Onana, Kapitän Matthijs de Ligt, Joel Veltman, Donny van de Beek, David Neres, Lasse Schöne, Frenkie de Jong und Hakim Ziyech - standen gegen Tottenham in der Startelf. Und sie standen furchtlos ihren Mann - in jedem Zweikampf, egal ob am Boden oder in der Luft.

Womöglich haben sie in ihrer Phantasie vor Augen, der legendären Amsterdamer Weltauswahl um Torwart Edwin van der Sar, Frank Rijkaard und Trainer Louis van Gaal nachzueifern, die vor 24 Jahren zuletzt für Ajax die Champions League gewann. Den Lohn für die in London nachgewiesene Tauglichkeit, nicht nur schick angreifen, sondern auch kompromisslos verteidigen zu können, erhielt Ajax durch das Ergebnis: 1:0. Im Rückspiel in der Johan-Cruyff-Arena am kommenden Mittwoch würde schon ein schmuckloses Unentschieden reichen zur Durchreise ins Finale nach Madrid (im Atlético-Stadion)

. Als erst drittem Verein in diesem Wettbewerb nach dem FC Bayern (2013) und Real Madrid (2018) gelang es Ajax damit, jedes seiner drei K.o.-Runden-Auswärtsspiele zu gewinnen; mit dieser Bilanz holten Bayern und Real später jeweils den Titel. Ajax-Coach ten Hag schwärmte von einer "unglaublichen Nacht" und einem "phantastischen Resultat" für den niederländischen Rekordmeister, die Spieler hätten gekämpft wie die Löwen: "Diese Willensleistung war sehr schön zu sehen. Wir können Fußball auf verschiedene Arten spielen." Abwehrchef de Ligt, 19, sagte: "Das ist ein bisschen wie im Märchen."

Begünstigt durch die anfängliche taktische Fehlkalkulation von Tottenham-Trainer Pochettino, mit einer Abwehr-Fünferkette zu starten, spielte Ajax die Gegenspieler nach Lust und Laune her. Ohne sich die Last anmerken zu lassen, als Favorit ins erste Halbfinale des Klubs in der Königsklasse nach 22 Jahren zu gehen, knüpften die Jünglinge aus Amsterdam ihre Spielzüge zusammen: einer besser als der andere.

Die Spurs verloren nach einer halben Stunde Verteidiger Jan Vertonghen, der nach einem Zusammenprall mit dem Kollegen Alderweireld mit schwerer Gehirnerschütterung und blutender Wunde ausgewechselt werden musste. Die Londoner reihten sich auf dem Feld immer weiter hinten ein, um vorne nicht länger ins Leere laufen zu müssen, wodurch die Formulierung "einen an die Wand spielen" tatsächlich mal ihrer Symbolik standhalten konnte.

Die niederländische Zeitung Volkskrant schrieb: "Die Mannschaft hat die Ehre von so manchem Spitzenklub verletzt. Mit Fußball, der von Herzen kommt." Als finale Prüfung fürs Endspiel wartet auf Ajax nun die Aufgabe, erstmals mit einer Führung ins Rückspiel zu gehen. Nichts mehr zu verlieren hat nur noch Tottenham.

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Quelle:
SZ vom 02.05.2019
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