Italien-Derby in der Champions League:Als hätte jemand auf die Beschleunigungstaste gedrückt

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Schiedsrichter Istvan Kovacs zeigt Neapels Andre-Frank Zambo Anguissa die rote Karte - eine von mehreren solcher intensiven Szenen in Mailand. (Foto: Antonio Calanni/dpa)

Milan schlägt Neapel in einem spektakuläreren Spiel, als es sich die Tifosi erwartet hatten: unitalienisch, untaktisch. Im Rückspiel hoffen die Neapolitaner auf die Rückkehr ihres Neuners - und auf ein Einsehen ihrer surreal kalten Fans.

Von Oliver Meiler, Rom

Mit Prognosen ist es so eine Sache: Sie sind eine Lotterie, erstochert in der Finsternis des Unwissens. Vor dem italienischen Viertelfinale in der Champions League zwischen Milan und Napoli hatte es auch von sehr berufener Stelle geheißen, im Hinspiel sei eine taktische Nummer zu erwarten, Schach unter den Coaches, wahrscheinlich eine Art Neutralisierungsschlacht. Schließlich dauere diese Begegnung 180 Minuten, allermindestens. Und schließlich sei dies Italien, Welthochamt des fußballerischen Kalkulierens. Auch Fabio Capello, der Kommentator gewordene frühere Trainer, redete so, um nur einen Prominenten zu nennen. Tifosi anderer Glaubensrichtungen mochten sich schon gefragt haben, ob sich das Einschalten überhaupt lohne.

Nun, es kam alles ganz anders: schneller, wilder. Als hätte jemand im Bauch des Giuseppe Meazza im Mailänder Stadtteil San Siro auf diesen Knopf gedrückt, den man von Abspielgeräten kennt: eineinhalb Mal die normale Geschwindigkeit, doppelte Geschwindigkeit. Napoli schob die große Sorge weg, die ihm das Fehlen von Victor Osimhen bereitete, seinem Mittelstürmer, und stürmte auch ohne Neuner einfach los.

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Er steht nun bei 45 Saisontoren: Die Durchschlagskraft von Erling Haaland soll Pep Guardiola den Henkelpott bringen. Dafür nimmt der Trainer sogar die Abkehr von fußballerischen Leitgedanken in Kauf - und teaminterne Verstimmungen.

Von Sven Haist

SSC-Trainer Luciano Spalletti hatte keine Alternative, auch Osimhens Ersatz, der Argentinier Giovanni Simeone, ist verletzt, und Giacomo Raspadori noch immer nicht fit. So wandelte er den mazedonischen Mittelfeldspieler Eljif Elmas zu einem falschen Neuner um, wobei: "Falso" sollte seine Rolle nur sehr ungebührend spiegeln - er war da vorne sichtlich am falschen Platz. Und doch gelang es den Dominatoren aus der Serie A, Milan zunächst einen Schrecken einzujagen, eine halbe Stunde lang. Die Mailänder hatten offensichtlich die Prognose mit Fabio Capello geteilt.

"Show im San Siro", pushte die "Gazzetta" auf die Handys. Das hatte niemand erwartet

Aus dem Schachspiel wurde ein sehr untaktischer, sehr unitalienischer Schlagabtausch, einer mit englischen Elementen und spanischen Einschlägen. Die italienischen Zeitungen jedenfalls fanden, die beiden Mannschaften hätten ein modernes, schnelles Spektakel geboten, eines für die internationale Bühne. Die Serie A hat ihre Zuschauer ja an eine aufreizend gemächliche Gangart gewöhnt, da fällt ein Tempowechsel sofort auf. "Show in San Siro", pushte die Gazzetta dello Sport auf die Handys ihrer Leser.

Die Mailänder also ließen das Spiel lange Zeit über sich ergehen, irritiert und auch ein bisschen überrollt: Das Mittelfeld traten sie ganz an Napoli ab, wo es doch genau umgekehrt geplant gewesen war. Mit Osimhen, so viel Diagnose sei gewagt, hätten die Neapolitaner eine ihrer vielen Chancen in der ersten Halbzeit genutzt - mit dessen "grinta" vor dem Tor, wie die Italiener den Biss nennen, diesen unbedingten Drang eines richtigen Neuners. Doch dann passierte, was diesen Sport ausmacht: Brahim Diaz, Leihgabe von Real Madrid, entwand sich mit einer Zaubernummer, die die Gazzetta an Houdini erinnerte, nahe der Mittellinie gleich dreier Neapel-Gegenspieler, querte den Platz, bediente Ismaël Bennacer, und der traf zum Siegtor. Völlig gegen den Spielverlauf. Aber was heißt das schon?

1:0 für Milan. Ist das gut? Ist das genug? AC-Trainer Stefano Pioli sagte nach dem Spiel: "Kein Ergebnis hätte das Weiterkommen bereits besiegelt." Nun, so absolut lässt sich das vielleicht nicht sagen. Aber immerhin: Sein Team hat wieder zu Null gespielt, zum fünften Mal in den jüngsten fünf Spielen der Champions League, was diesmal ungefähr zu hundert Prozent der Leistung des Torwarts Mike Maignan zuzuschreiben war: Der Franzose parierte auch Bälle, die man selbst in Zeitlupe noch ins Tor segeln sah - auch einen von Giovanni Di Lorenzo kurz vor Schluss, da war Napoli nur noch zu zehnt auf dem Platz, und das war höchstens halb nachvollziehbar.

Und die Kurven im Stadio Maradona: Werden sie diesmal warm?

Den dürftigsten Beitrag zur "Show im San Siro" leistete nämlich der Schiedsrichter aus Rumänien, Istvan Kovacs. In der Anfangsphase ahndete er gar nichts, auch den mittleren Vandalismus von Milans Rafael Leao gegen die Eckfahne nicht: Sie zerbarst unter dem Fußtritt des Portugiesen, der damit seinen Frust nach einer vergebenen Torchance zu kompensieren suchte. Hätte Gelb sein müssen, ist immer Gelb.

In der zweiten Halbzeit dann verteilte Kovacs plötzlich Karten ohne Maß, vor allem gegen Napoli. So sah der Kameruner André Zambo Anguissa, ein Balancespieler im zentralen Mittelfeld, zweimal Gelb und flog vom Rasen. Eine Verwarnung für Proteste gab es dann auch noch für den südkoreanischen Napoli-Abwehrchef Kim Min-jae, der vorbelastet in die Begegnung gegangen war und im Rückspiel nun schmerzlich vermisst werden wird. Vielleicht ist dieser doppelte Ausfall durch Sperren sogar Napolis größere Hypothek als das 0:1. Trainer Spalletti muss die zentrale Achse neu komponieren, und so lang ist seine Ersatzbank ja nicht.

Doch das scheint nicht einmal seine allervorderste Sorge zu sein. Die sieht er auf den Rängen, in den eigenen Kurven. Neulich, als Napoli in der Liga daheim im Stadio Maradona 0:4 gegen Milan verlor, gab es in der Curva B surreale Szenen. Manche Ultras hoben zu Schmähchören gegen den Präsidenten ihres Vereins an, den römischen Filmproduzenten Aurelio De Laurentiis. Der ist zwar nicht unwesentlich dafür verantwortlich, dass sich Neapel nach seinem Absturz in den Nullerjahren wieder zur respektablen Hausnummer im europäischen Fußball entwickelt hat. Doch die harten Fans mögen ihn nicht leiden, sie werfen ihm auch eine prohibitive Preispolitik vor. So war das Stadion seitens der SSC-Fans kalt, man hörte fast nur die Milanisti. Das passt schlecht in die euphorische Stimmung, die das wunderbar leicht euphorisierbare Neapel erfasst hat.

Spalletti sagte mit Blick auf nächsten Dienstag: "Wenn das Stadion diesmal nicht warm ist, dann gehe ich nach Hause." Es könne nicht sein, dass die Mannschaft in Geiselhaft genommen werde, sie sei nun mal ein sensibles Ensemble. Mit etwas "grinta" seines wahren Neuners, mit Osimhen, der dann wohl wieder dabei sein wird, könnten die Herzen aber sehr schnell sehr warm werden.

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